Dissertationsprojekt | laufend
Abteilung für Kunstgeschichte und Kunsttheorie
In den 1960er Jahren beginnen viele Künstler:innen, sich für das ästhetische Potential von Verfallsprozessen zu interessieren. Dieter Roth fertigt Skulpturen aus schimmelnden Küchenabfällen, Alice Aycock lässt Lehm in der Galerie austrocknen, Gordon Matta-Clark beimpft Werke mit Hefepilzen und Alan Sonfist kompostiert Leinwände. Solche intendierten, der menschlichen Kontrolle jedoch oft entgleitenden Verfallsprozesse hinterfragen gängige Vorstellungen von Autorschaft und künstlerischer agency, den Zweck von Konservierung, die Wertstabilität von Kunst als Investment und die ästhetische Distanz von Betrachter:innen, die die im Galerieraum fortgesetzte Disintegration der Werke durch ihre körperliche Präsenz noch zusätzlich beschleunigen.
Derart verfallende Kunst hat augenscheinliche kunsthistorische Vorläufer, wie mittelalterliche Transi, barocke Stilleben oder die künstlichen Ruinen des 18. Jahrhunderts. Hier avancieren Verfallsprozesse jedoch vom Sujet zum Strukturprinzip. Vergänglichkeit wird nicht mehr repräsentiert, sondern präsentiert, was den Ewigkeitswert von Kunst grundsätzlich in Frage gestellt.
Dafür gibt es in den 1960er Jahren zahlreiche Gründe: Die atomare Bedrohung versieht künstlerische Verfallsprozesse mit einer prophetischen oder therapeutischen Wirkung, die kapitalistische Wegwerfkultur lässt haltbare Kunstwerke unzeitgemäß erscheinen und die Systemökologie schafft auch im Kunstfeld eine neue Sensibilität für verzehrende Wechselbeziehungen.
Nach dem Leben. Eine Kunstgeschichte des Verfalls untersucht die vergängliche Kunst der 1960er Jahre im Licht kunsthistorischer Referenzen und zeitgenössischer Diskurse gleichermaßen, in denen künstlerische Praktiken auf Verfallsprozesse in Film, Literatur und Werbegrafik, in der materiellen Kultur, in naturwissenschaftlichen Paradigmen und in ökologisch-politischen Gegebenheiten treffen.
Eine derart erweiterte kunsthistorische Forschung ermöglicht einen Zugang zu Diskursen der Vergänglichkeit, die über das künstlerische Feld – und über die 1960er Jahre – weit hinausgehen. Denn solche künstlerischen Praktiken erhalten eine neue Brisanz im Licht heutiger Debatten über nicht-menschliche Wirkmacht und Kreativität, über Fungi und Fermentationsprozesse als Momente eines Symbiozäns und über den emotiven Umgang mit einer verkümmernden Welt.
Die Arbeit verfolgt damit zwei Ziele. Zum einen soll das Phänomen der materiell und intentional verfallenden Kunst der 1960er Jahre, ihrer Vorgeschichten und ihrer Spuren in ästhetischen Praktiken der Gegenwart kunsthistorisch aufgearbeitet werden. Und zum anderen unternimmt sie eine kulturphilosophische Erkundung des Verfalls, als factum brutum menschlicher und mehr als menschlicher Existenz sowie als zentraler narrativer Kategorie unserer Gegenwart, die mit jedem Jahr ohne systemischen Wandel an trauriger Relevanz gewinnt.