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WORKSHOP

Von der Bibliothek ungelesener Bücher nach Linz

Welches Wetter haben wir heute?“ Die erste Frage bei meinen Interviews zu ungelesenen Büchern. „Welches Buch haben Sie noch nicht gelesen?“ Nach dieser Frage wird dann auch schon der Inhalt befragt, den man eigentlich nicht kennen kann, den man aber in Form von Mutmaßungen, Behauptungen etc. vorerfindet. Dieses ursprüngliche Konzept der Bibliothek ungelesener Bücher fungiert in meinem Workshop als Ritual. Ob in der Literatur oder in der Bildenden Kunst: immer geht’s um Produktion von Kunst auf zweiter Stufe: Herstellung von Literatur mittels Bildender Kunst, Produktion von Bildender Kunst mittels Literatur, um Produktion von Kunst auf höchst konjunktiver Stufe. Sprechen über Kunst, die man nie produzieren wird, schreiben über ein Buch, das es nicht gibt. Beides existiert in Form von Mutmaßungen, Behauptungen. Das sollte doch genügen. So wie ich in der Bibliothek ungelesener Bücher nach etwas frage, das man noch nicht gelesen hat, frage ich in meinem Workshop mittels Literatur nach so etwas wie einer unsichtbaren Kunst. Es soll dabei eine Schrift, ein Schreiben, eine Spur, ein Film entstehen, durch das das Noch-nicht hindurch scheint, ein Palimpsest, bei dem etwas durchscheint, das es noch gar nicht gibt, eine Zweitschrift ohne Erstschrift, eine Sekundärkunst ohne oder noch vor der Primärkunst: eine Kunst auf dem Sprung zum so genannten Primärtext: ein Kunst, die eine Kunst, die (noch) nicht existiert, behauptet. Es könnte sich um ein Daneben-Schreiben-Malen-Filmen etc. handeln, ein Weiterdichten im Sinne von Vorausdichten auf der Grenze zwischen erster und zweiter Stufe, zwischen dem Spielerischen und dem Ernsten, ein Verwischen von Grenzen. Jeder, der sich in der Kunstproduktion befindet, besitzt unzählige Werke, die er noch nicht gemacht hat. Nicht diese Werke zu machen ist Ziel des Workshops, sondern so zu tun, als ob es sie gäbe. Es geht darum mittels Literatur eine Sprache für eine Kunst des Als-ob zu schaffen, ganz im Sinne des musilschen Möglichkeitssinns. Damit bleibt der potentielle Charakter des Verfahrens gewahrt: Die Möglichkeit, vollkommen unerwartete Sequenzen zu bekommen, bleibt erhalten, zugunsten einer Art potentiellen Kunst. Potentiell bedeutet hier zufällig. Zufällig bedeutet hier usw, wobei der Fragesteller, die zweite Hand, dem unsichtbarem Kunstwerk jederzeit eine andere Richtung geben kann. Die zweite Hand bin vorderhand ich, bzw. der Katalog von Fragen und Literaturen, der das Spiel eröffnet, im Verlauf des Workshops könnte das aber jeder sein. Hier spielt natürlich zusätzlich die Lust und der Spaß am Ersetzen eine Rolle, im Sinne einer Ersatz- oder Stellvertreterkunst. Das Fabulieren über ein Kunstwerk, das es nicht gibt, ersetzt das Kunstwerk vollends. Die erste Stufe wird durch die zweite Stufe ersetzt, eine authentische Abfolge durch eine von außen importierte. Kaviarersatz (Seehasenroggen) im Verhältnis zu Kaviar. „Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen; und wenn man ihm von irgendetwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu den¬ken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist. [...] Solche Mög¬lichkeitsmenschen leben, wie man sagt, in einem feineren Gespinst, in einem Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumerei und Konjunktiven.“ Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Kap. 4, ‚Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben’