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Miasmen: Anfänge, Atmosphären, Ästhetiken

Gloria Meynen
Theorieveranstaltung
Termine N.N.

»Miasma, griech., Verunreinigung, Krankheitsstoff,… entsteht hauptsächlich aus der Fäulniß organischer Stoffe, … in Orten mit faulenden Leichnamen, z. B. Kirchhöfen, ferner in Kloaken, eingeschlossenen, von vielen Menschen bewohnten Räumen, wie Schiffe, Kerker, Spitäler, Lager)… u. kann durch Winde in weite Entfernungen gebracht werden«, so steht es in Herders Konversationslexikon. Der Geograf Alexander von Humboldt überträgt die faulen Winde auf die schwarzen Wolken der Dampfmaschine. Aus den Miasmen, die »mächtig auf unsere Organe wirken«, entsteht um 1800 einer der ersten Klimabegriffe, ein Modell für berührungslose Übertragungen und »Wechselwirkungen«.

Knapp zweihundert Jahre später, kurz nach dem Mauerfall, greift der französische Philosoph Gilles Deleuze in die Hosentaschen der Geografie und zieht ein Taschentuch mit kleinsten Partikeln, Keimstaub und ausgedehnten Aerosolnestern, hervor. Er spricht von »Hauch«, »Atem« und »Gas«. Mit der Gasförmigkeit digitaler Medien entstehe die »Kontrollgesellschaft« als neue Form des Unternehmens. Die Einschließungsarchitekturen der Disziplinargesellschaft – Schulen, Kasernen, Spitäler, Kerker – seien in ihrem Schatten in eine Krise geraten. Die synthetischen Miasmen stehen nicht mehr im Verdacht, die Welt mit Pest und Cholera einzunebeln, sondern fuer die berührungslose Ausbreitung immersiver digitaler Medienlandschaften. Statt Linearität und Wiederholung Streuung, Abweichung, Mutation. Unter den Bedingungen der KI, der selbstlernenden Algorithmen, tauchen die Miasmen erneut als Metaphern und Beschreibungsmuster auf. So findet manche Deleuze‘ selbstverformenden Gußformen in den Large Language Models, in der Fluidität KI-erzeugter Texte.

Grund genug, den Miasmen von der Medizin über die Atmosphärenwissenschaften bis zu den digitalen Gegenwartsdiagnosen zu folgen. Was kann mit ihnen beschrieben und analysiert werden, was problematisiert und negiert werden? Das Seminar lädt dazu ein, Miasmen sowohl als medien- und wissenshistorischen Gegenstände als auch als Erklärungsmodell für (post)digitale Zustände und Zukünfte zu entdecken. Vom Keimstaub zur berührungslosen Übertragung -- welche Mediengeschichten erzählen Miasmen?