November 2023 Wien
Das Interview mit Martin Fritz (MF) führten Heidi Pretterhofer (HP) und Michael Rieper (MR) im November 2023 in Wien.
Martin Fritz ist Kurator, Berater, Lehrbeauftragter und Publizist. Er spezialisierte sich auf Kontextkunde, Institutionskritik, ortsspezifische Kunst und Kulturpolitik. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften arbeitete er und war er Teil diverser Projekte. Fritz war in verschiedenen leitenden Positionen tätig, darunter als Director of Operations für das P.S.1 Contemporary Art Center in New York und als Geschäftsführer des Kunstprojekts "In Between" der Expo 2000 in Hannover. Von 2004 bis 2009 leitete er das Festival der Regionen in Oberösterreich. Seit 2022 ist Martin Fritz Generalsekretär der Österreichischen UNESCO-Kommission.
HP: Der Strukturplan zeigt ganz Oberösterreich in Gebäuden aufgelöst, zusammengehalten von Wasserwegen und Seen. Das ist der ganze Siedlungsraum Oberösterreich. Wodurch zeichnet sich dieser Raum aus?
MF: Die offizielle Raumplanung oder zumindest die politische Vorstellung war, dass man nahezu jeden Ort mit mindestens oder maximal einer Stunde von Linz erreichen kann. Es gibt den Begriff des Zentralraums. Das Steyr-Linz-Wels-Konglomerat. Die Lebensstile sind im Hinterkopf ländlich geprägt. Jeder und jede hat ständig die Möglichkeit, mit ebendieser berühmten Stunde, in einen ländlichen Lebensraum zurückzukehren. Als Zweitwohnsitz, Herkunftsgemeinde, oder Elternwohnsitz. Diese dialektische Beziehung zwischen Zentralraum und Landleben ist mir in Erinnerung.
HP: Wie siehst du in Oberösterreich die Beziehung zum Zentralraum?
MF: Es gibt Symbole dafür, zum Beispiel die Drive-in-Möglichkeit bei jenen Stellen der Landesregierung, die direkt am Hauptbahnhof in Linz angesiedelt sind. Das spiegelt wider, dass man sich bewusst ist, wie viel man mit dem Pendeln, dem Mobilsein und dem zeitgenössischen, dezentralen Landleben zu tun hat. Da ist ein bisschen Propaganda im Spiel.
HP: Du hast mehrmals das Festival der Regionen geleitet. Kannst du bitte die drei Regionen nennen und ein kurzes Charakteristikum zu ihnen geben? Die Titel waren markant: Geordnete Verhältnisse[1], Fluchtwege und Sackgassen[2] und Normalzustand[3].
MF: Es ist ein Spiel mit dem Regionsbegriff, denn der muss jeweils erst konstruiert werden. Die rein geografischen Viertel sind zwar auch Regionsbezeichnungen, doch man muss eine Logik finden zwischen Topografie, Geschichte und dem, was es aktuell an interessanten Themenlagen gibt. Im oberen Mühlviertel, 2005, war die Idee das typische Provozieren – die Kunst geht aufs Land und provoziert, ist Störfaktor und bringt alles in Aufruhr – schon am Titel zu konterkarieren. Das obere Mühlviertel, mit seinem stereotypisch ordentlichen Schlägl. Es gibt das Stift, es gibt die alten Ortskerne und man könnte sagen, da ist vieles in Ordnung, darum haben wir diese Destination, dieses äußerste Ende von Schlägl bis Schwarzenberg mit dem Titel Geordnete Verhältnisse bespielt, wobei damit auch eine Anspielung auf das Stifterjahr verbunden war. Beim zweiten Festival haben wir noch viel stärker konstruiert. Wir haben die Pyhrn Autobahn von Windischgarsten bis Kirchdorf als Region unter Anführungszeichen definiert. Die offiziellen Bezeichnungen waren Bezirk Kirchdorf, Priel-Region, oder Einzelnamen wie Hinterstoder. Uns hat interessiert, was diese historische und gegenwärtige Realität als Durchzugsgebiet ausmacht. Interessant war, dass wir auf eine Kulturinitiative gestoßen sind, die genau diese Geschichte gehabt hat, nämlich aus dem Autobahn-Widerstand heraus. Als die Autobahn fertig war, trotz Widerstand, sind sie zur Kulturinitiative geworden. Damit hatten wir einen Beweis dafür, dass das Thema, das Setting und die Akteur:innen vor Ort gestimmt haben. Fluchtwege und Sackgassen thematisierte die Autobahn, natürlich auch Fragen wie Migration, Einwanderungsgesellschaft, Mobilität, Pendeln, das ganze Paket.
HP: Hast du zu dem Zeitpunkt schon von dieser Kulturinitiative gewusst, die die gleiche Region konstruiert hat wie ihr mit dem Festival?
MF: Ich habe mich in der Recherche immer erst dann für eine Region entschieden bzw. dem Vorstand vorgeschlagen, wenn mir die Akteur:innen-Struktur klar war. Den Verein kennenzulernen war dann die letzte Sicherheit.
MR: Du hast gewusst, das ist die richtige Entscheidung.
MF: Ich bin zum Schotter-Badesee gekommen, im Kassenhäuschen saß jemand der sagte, den See hat gerade diese Kulturinitiative gepachtet. Sie wollten ihren Tätigkeitsbereich ausweiten und dachten, einen Badesee zu pachten wäre gut. Das war ein schöner Moment, zu sehen, wofür sind Kulturinitiativen da. Was können sie beleben. In dem Fall haben sie einen Badesee-Betrieb sichergestellt, für den es keinen Betreiber gegeben hat. Beim Festival der Regionen war für uns eine zentrale Frage, wer agiert dort schon? Und wer agiert so, dass es für uns eine Kooperation werden kann? Das dritte Festival war dann 2009, als Linz Kulturhauptstadt Europas war. Bei öffentlichen Präsentationen wurde von der Kulturhauptstadt als Ausnahmezustand gesprochen. Diesen Ball haben wir mit Normalzustand gekontert. Diese städtischen Randlagen, zwei Wohnanlagen und die Solar-City, waren wie eine zeitgenössische Kleinstadt. Eine Dorf-Struktur, mit der das Festival der Regionen Erfahrungen hatte. Wie agiert man in solchen Strukturen? Und so haben die drei Festivals die Bewegung nachvollzogen, die für mich immer ganz wichtig war – dass man zeitgemäßes Leben im dezentralen Raum ohne Mobilität nicht beschreiben kann. Es ist ein Paradox: Die großstädtischen Lebensstile können es sich leisten weniger mobil zu sein. Es sind die ländlichen Lebensformen, die im Los-Angeles-Gefühl leben.
HP: Absolut, das Los-Angeles-Gefühl ist in Oberösterreich weit verbreitet, wenn man sich die diversen Einfamilienhausgebiete anschaut. Was kann man sich als Zukunftsbild für diese regionalen Entwicklungen wünschen?
MF: Ich glaube die größte Veränderung ist, dass man jetzt hoffen könnte, auch mit anderen technologischen Entwicklungen etwas nachhaltiger zu leben als dieses wahnwitzige Pendeln, mit dem die Auto-Kultur verbunden ist. Zum Beispiel das Argument mit der Stunde. Wenn jemand in Linz einen Job hat, wie kann er eine Fußball-Knaben-Mannschaft in seinem Heimatort trainieren, mit allem, was dazugehört – dass es die Fußballmannschaft gibt, dass die Kinder was zu tun haben, dass es noch ein Dorfleben gibt? Er hört um halb fünf in Linz auf und fährt dann gehetzt eine Stunde, um gegen halb sechs das Training zu beginnen. Reizvoller wäre es wohl, in fünf Minuten vom Arbeitsplatz zum Fußballplatz zu kommen oder vor der Arbeit durch schöne Wälder und die Natur zu Joggen und eine Viertelstunde später sich in einer anderen Situation wieder zu finden. Mit dem Ausbau öffentlicher Verkehrsmittel, Klimabewusstsein, Homeoffice, mit diesem Mix kann man von den Lebensformen wegkommen, die das Auto so zentral voraussetzen.
HP: Du hast schon mehrmals die Mobilität als wesentliches Thema erwähnt. In Linz gibt es 211.000 Einwohner und ca. 109.000 Einpendler. Wie interpretierst du dieses Verhältnis?
MF: Ich hatte ein paar Klassiker, mit denen ich manchmal provoziert habe. Ich habe behauptet, dass die Leute Pendeln mögen. Dass man gerne pendelt, weil man gerne dieses Leben und die Zeit dazwischen hat, und diesen Gestaltungsspielraum, dass man ein Leben in der Arbeit hat und ein Leben zuhause, und eines dazwischen. Beim Pendeln kommt dazu, dass das deine eigene Zeit ist. Das ist fürchterlich aus einer ökologischen Perspektive. Gerade mit der ganzen SUV-Kultur: ein Stau ist nicht mehr unbequem, top Board-Entertainment, gute qualitätvolle Umgebung, die Kommunikationsmöglichkeiten sind gegeben, die Leute führen ihre Telefonate. Das Pendeln ist eine Lebensform, die man vielleicht doch nicht loswird. Es sind viele Jobs nicht ersetzbar. Es braucht insgesamt eine radikal andere Infrastruktur, um mehr Jobs mobil zu machen oder zu verlagern. Es sollten auch Jobs in die regionalen Zentren zurückgeholt werden, hier wird man investieren müssen, es reicht nicht, nur Glasfaserkabel zu verlegen, man wird Produktionsmöglichkeiten vorsehen müssen.
HP: Welche Chancen bieten künstlerische, kulturelle Bespielungen, wie das Festival der Regionen, für längerfristige Auswirkungen auf die Entwicklung dieser Gebiete? Glaubst du, dass jetzt, zehn Jahre danach, irgendetwas aufgrund dessen anders geworden ist?
MF: Kirchdorf war ein stolzer Moment, da wurde ich zum 10-jährigen Jubiläum des Freien Radios von jenen eingeladen, die an seiner Gründung während des Festivals beteiligt waren. Dazu kam noch eine Art Integrations-Haus und ein freies Seminar-Zentrum. Lustig war, dass ich ohne Voranmeldung an dem Tag in ein Gasthaus gegangen bin und die zentralen Exponent:innen sind genau an demselben Tisch gesessen. Im Grunde habe ich ohne Vereinbarung alle getroffen. Überall, wo das Festival in der Vergangenheit war, kommt man öfter wieder zurück. Es geht nicht darum, ob das Festival dort was macht, sondern darum, dass es überall in Oberösterreich diese Konstellation mit alternativen Kulturvereinen gibt. Deswegen gibt es das Festival der Regionen, weil es schon seit den 1970er-Jahren eine alternative Kulturszene und Kulturinitiativen im ländlichen Raum gibt, die sich frühzeitig über die KUPF, die Interessensvertretung organisiert hat. Lebenswert bleiben diese Orte, weil es das schon seit 40 Jahren gibt. Weil es diese Netze gibt – inklusive dem, was in Linz an Kulturentwicklung stattgefunden hat – haben viele oberösterreichischen Kulturakteur:innen gute Gründe, immer wieder zurückzukommen, oder vielleicht dort zu bleiben. Sie denken nicht ganz so traumatisiert an ihre Heimatorte zurück, weil sie sich an das Rockfestival erinnern, sie erinnern sich ans Heimatfilmfestival, an das Jazzatelier in Ulrichsberg und Abende im Filmclub oder in der Kapu. Das ist die größte Auswirkung: Dass es ganz andere Erinnerungen und dadurch Rückkehrmöglichkeiten gibt.
MR: Welche Potenziale haben diese künstlerischen Interventionen an ihren jeweiligen Austragungsorten?
MF: Sie verstärken die Kooperation mit Leuten, die vor und nach dem Festival in solchen Orten agieren und damit dafür sorgen, dass sie lebenswert bleiben. Wichtig ist aber: Das machen nicht nur die Kulturveranstaltungen, sondern das machen andere auch. Zum Beispiel im Mühlviertel, Frauentreffpunkte, Agenda 21 Gruppen, lokale Kabarettveranstalter. Man muss schauen, wer sonst noch was macht. Welche anderen Akteur:innen sind am Werk? Ich halte nichts davon, dass man der Kunst eine Sonderrolle zuschreibt. Meistens sind die Leute an drei, vier Dingen parallel dran. Dieses Multitasking sieht man oft, und isoliert bringt das nichts. Wenn es einen Frauentreffpunkt gibt, wenn es eine Kulturinitiative gibt, wo sich jemand in der kommunalen politischen Struktur engagiert, dann wird aus allen diesen Beiträgen der Ort lebendiger.
MR: Eine damit noch verbundene persönliche Frage. Stand es damals im Raum, dass du noch ein viertes Festival der Regionen machst?
MF: Nein. Das war, sowohl von mir aus nicht angestrebt und vom Vorstand nicht angedeutet, wir waren uns sehr einig, dass drei eine gute Zahl ist. Mein Vorgänger hat drei gemacht, der Gottfried Hattinger vier. Es kann keine Lebensaufgabe von einer Person sein. Könnte schon, aber das war beim Festival der Regionen nicht der Stil und ich finde das richtig. In meinem Fall hat es mir auch gefallen, dass ich mit der dritten Ausgabe mit dem Festival nach Linz zurückgekehrt bin. Also, zuerst raus ins oberste Mühlvierte, dann die Phyrnautobahn und über Kirchdorf wieder nach Linz. So war es gut abgeschlossen.
MR: Welche Präsenz hatte damals die Kunstuni Linz? In welchem Verhältnis stand die Kunstuni zum Festival der Regionen und somit zu den Regionen draußen?
MF: Beim ersten Festival der Regionen gab es ganz intensive personelle Verflechtungen, weil das Gründungsmitglied und der langjährige Obmann Rainer Zendron damals Vizerektor war. Es gab Langzeitbeziehungen, auch über die Stadt an die Kunstuni und über Radio FRO, deren Exponent:innen jetzt dorftv machen. Bei meinen Festivals waren mehrere Projekte von Studierenden, es ist immer beliebt, dass sich Studierende an Ausschreibungen beteiligen.
Zur Realität des oberösterreichischen Kulturlebens gehört, dass es beim Festival der Regionen ohne die Linzer Partien nicht gegangen wäre, so gern alle immer die örtliche Bevölkerung, die Kooperationen vor Ort, und die lokalen Akteur:innen betont haben. Ohne die Belebung durch die Linz-Beteiligten, ohne das freie Radio, ohne die Stadtwerkstatts-Umgebung, ohne Kunstuni, ohne das ganze Umfeld geht es doch nicht. Man hat bei den Eröffnungen schon immer auch auf den Bus oder den Zug aus Linz gewartet.
MR: Wer beurteilt Konzepte, ob wirtschaftliche, kulturelle, oder raumplanerische Fragestellungen? Welche Ideen aus der Zivilbevölkerung werden umgesetzt?
MF: Ich bin für fachkundige Expert:innen, ein klassisches Beiratssystem, wobei wir klargestellt haben, dass der Beirat nur ein Beirat ist. Und dass letztendlich die Projektarbeit mit den Leuten durch die Festival-Leitung und den Vorstand beweglicher sein muss. Ein Projekt ist ein aktiver Entwicklungsprozess, den kann man nicht mit einer Jury führen. Wenn im Kern Expert:innen des jeweiligen Feldes eine starke Gruppe bilden, dann kann man vieles an partizipativen Umgebungen dazu bauen. Dann dockt erst die Politik an, die sich nicht im Kern befindet. Es ist manchmal gut, manchmal schlecht, wenn sie dabei sind.
HP: Das Festival der Regionen ist ein Verein?
MF: Ja, 75% Landesfinanzierung. Eine Bundesfinanzierung ist dabei, die hilft sehr. Und wichtig: Keine Pflicht- oder notwendige Finanzierung von den jeweiligen Regionen und Gemeinden.
HP: Man kann sich nicht für das Festival der Regionen bewerben, sondern jemand sucht die Region aus?
MF: Genau. Man kommt aus heiterem Himmel. Aber mit eigenem Budget. Das war sehr hilfreich. Lokalpolitisch ist es wichtig, dass man nicht das Geld wegnimmt, das dann eventuell für etwas anderes fehlt, damit man nicht in einen lokalen Konflikt gerät.
MR: Eine Frage zur Boden- und Klimawandel-Thematik. Würdest du persönlich die Klima-Rahmenkonditionen der Vereinten Nationen unterschreiben, aus 1994, und die daraus resultierenden Notwendigkeiten, die erfolgen sollen?
MF: Da kann ich zu meiner aktuellen Position umschwenken: Auf UNESCO-Ebene ist es ein ganz zentrales Thema, Nachhaltigkeits- und Klimaanpassung. Die Entwicklungsziele sind das Dokument, auf das sich alle anderen beziehen. Alle gesellschaftlichen Bereiche haben eine gemeinsame Agenda. Ich bewege mich im Wissenschaftsbereich, im Bildungsbereich, im Kulturbereich, und im Medien- und Kommunikationsbereich. Die verantwortlichen Leute reden alle dasselbe.
HP: Bei der Frage nach dem Bodenschutz-Gesetz gibt es aktuell aus Oberösterreich ein klares Nein, sich diesem Gesetz anzuschließen.
MF: Die bisherige Modernisierungsvorstellung machte sich oft an Neubauten fest: Es wurde oft gleich gefragt: Was muss man bauen? Jetzt sitzen das Abwanderungsthema und der Leerstand in den Knochen und man fragt grundsätzlicher: Wie macht man Orte lebenswert? Mit Bestandsaktivierung kann man viel machen. Bei der Kulturhauptstadt Bad Ischl haben sie unter anderem deswegen jetzt auf Neubauten verzichtet, um das zu unterstreichen. In der UNESCO-Kommission verfolgen wir die Bestandsdebatte, Themen wie Denkmalschutz, Kulturerhaltung usw. sehr aufmerksam. Das Nicht-Bauen, das Nicht-Abreißen. Es braucht überzeugende Best-Practice-Beispiele.
MR: Im Rahmen der UNESCO, was könnt ihr aus eurer Perspektive zu dem Thema des Klimaschutzes beitragen?
MF: In allen UNESCO-Arbeitsbereichen ist „Vielfalt“ der zentrale Wert. Kulturelle Vielfalt, künstlerische Vielfalt, Vielfalt und Respekt der Herkünfte und Hintergründe. Zugleich braucht es die notwendige Neuverhandlung der globalen Beziehungen. Wir sind eine globale Organisation und das ist ein globales Thema.
MR: In deinem Arbeitsumfeld ist es der Fall, dass du die euro-zentristische und sogar heimat-zentristische Betrachtung aufbrichst und immer wieder zeigen musst, dass es eigentlich ganz viel anderes gibt, weil du von dieser Pluralität gesprochen hast.
MF: Oder die Gemeinsamkeiten. Am Festival der Regionen habe ich einmal in einem Interview gesagt: "Also irgendeine Form gefüllter Teigtaschen gibt es überall."
MR: Martin, zurück zur persönlichen Ebene. Wie viele Quadratmeter hast du in deinem Leben schon versiegelt oder hast daran mitgewirkt?
MF: Ich habe eine 40m2 Wohnung in meinem Elternhaus und das Haus wurde seit 1971 um keinen einzigen Quadratmeter verändert. Ich lebe in einer Mietwohnung, die schon seit mehr als 100 Jahren herumsteht. Fast alle Kunstinterventionen, an denen ich teilgenommen habe, hat man danach abbauen und zurückgeben müssen. Einmal haben wir ein Fundament nicht ausgegraben und prompt habe ich drei Monate später einen Auftrag bekommen, auch das noch zu entfernen. Da ich mich im Kunstbetrieb auf temporäre Interventionen spezialisiert hatte, bin ich versiegelungstechnisch recht unbelastet.
HP: Eine Zukunftsfrage: Wie würden Historiker:innen deine Arbeit in 50 Jahren beschreiben?
MF: Ich habe keine Illusionen über die Position, die man in 50 Jahren in der Kulturgeschichte haben wird. Man wird als einer von Hunderten nicht auftauchen. Oder zufällig mal aIs Fußnote.
MR: Vielen Dank für das Interview.
Martin Fritz ist seit 2022 Generalsekretär der österreichischen UNESCO-Kommission. Er hat Rechtswissenschaften an der Universität Wien studiert. Er ist Kurator, Berater und Publizist mit den Arbeitsschwerpunkten Kontext- und Institutionskunde, ortsspezifische Kunst und Stadt sowie Kulturmanagement, Governance und Kulturpolitik. Unter anderem leitete er von 2004 bis 2009 das Festival der Regionen in Oberösterreich. Er ist Lehrbeauftragter an der Kunstuniversität Linz und seit März 2023 Universitätsrat der Johannes Kepler Universität Linz.
[1] //fdr.at/festival/geordnete-verhaeltnisse/ (2023 11 17)
[2] //fdr.at/festival/fluchtwege-und-sackgassen/ (2023 11 17)
[3] //fdr.at/festival/normalzustand/ (2023 11 17)
HP: Thomas, du hast gesagt, dass du dich in der Lage fühlst, anhand eines Luftbildes die Grenzen Oberösterreichs zu seinen Nachbarländern zu erkennen. Wir haben hier vor uns einen Schwarzplan Oberösterreichs. Was sehen wir?
TP: Wir haben hier den Blick auf den oberösterreichischen Zentralraum. Und wir sehen die Siedlungsachse entlang der Traun als räumliches Verdichtungsband. Wir sehen ein räumlich disjunktes Siedlungsmuster und das Zusammenfließen der dort situierten Siedlungsräume. Es bildet sich genau das ab, was die Raumordnung der letzten 50 Jahre dort ausgezeichnet hat: Das Nichtergreifen effektiver Maßnahmen zur Stärkung zentralörtlicher Strukturen und das Fehlen einer Definition von Landschaftskorridoren, die das Abgrenzen der einzelnen Siedlungskörper gewährleisten würden. Und es ist dieses für Oberösterreich typische Muster des Ineinanderfließens von Stadt und Land. Ein Siedlungsmuster, das sich entlang der Donau, entlang der Traun, teilweise auch an der unteren Enns, findet. Dieses Verwischen der inneren Raumgrenzen zwischen Stadt und Land, das ist so typisch. Mit allen Vor- und Nachteilen. Mit dem Vorteil, dass in Siedlungsbereichen unmittelbar großartige Erholungsräume hineinreichen und diese wiederum mit der umgebenden agrarischen Kulturlandschaft eng verflochten sind. Andererseits ist es aber auch die Nichtorientierbarkeit, das Fehlen von Identität, das Fehlen von Lesbarkeit.
HP: Wodurch zeichnet sich der Siedlungsraum Oberösterreich aus?
TP: Der Siedlungsraum in Oberösterreich zeichnet sich in erster Linie dadurch aus, dass er „uncharmant“ ist. Oberösterreich ist sicher kein Bundesland in Österreich, wo Baukultur oder die Entwicklung baukultureller Traditionen einen zentralen Stellenwert hat. Oberösterreich ist dafür bekannt, dass es ständig für Überraschungen gut ist. An den verschiedensten Orten trifft man Einzelbauten, die herausragend sind. Oberösterreich ist das Bundesland, das am stärksten durch Industrie und Gewerbe geprägt ist und den damit in Zusammenhang stehenden Architekturen. Diesbezüglich gibt es spannende Beispiele aus allen Generationen. Oberösterreich ist für mich das Land, das dadurch geprägt ist, dass es jahrzehntelang eine Raumordnung hatte, die ordnungsplanerisch vergleichsweise geringe Steuerungsdimensionen hatte. In dem Sinne ist für mich Oberösterreich das Land der verwischten, inneren Grenzen zwischen Stadt und Land. Wenn Peripherie sich dadurch auszeichnet, dass diverse Raummuster und unterschiedliche Nutzungen sich ergänzen, aber teilweise auch diametral gegenüberstehen, dann ist Oberösterreich das Land, das sicher den höchsten Peripherieanteil in Österreich hat.
HP: Auf dieser Karte sind nicht nur die Gebäude, sondern auch die Gewässer dargestellt. Was sind die speziellen Elemente in diesem Bereich?
TP: Oberösterreich ist ganz stark durch seine Gewässerlandschaften geprägt. Da ist einerseits zentral der Durchmesser der Donaulandschaft. Ich habe aber auch die Innlandschaft, mit der großräumigen Niederung des Innviertels daran angrenzend. Ich habe die mächtigen Vorlandflüsse Traun und Enns, die den Raum prägen. Und ich habe natürlich den Anteil am Salzkammergut. In diesem Sinn sind Gewässerlandschaften für das Bild Oberösterreichs sehr bedeutend. Wir finden bedeutende Beckenlandschaften an diese Flusslandschaften angelagert. Ob es jetzt die Welser Heide ist, ob es das Eferdinger Becken ist oder die gesamte Innviertellandschaft. Ich habe auch im Innviertel, im Unterschied zum Salzkammergut, kleinräumigere Seenstrukturen, die dort bildbestimmend sind. Das Thema Wasserlandschaften definiert zumindest den gesamten Alpenvorlandbereich, im gesamten Molassebereich[1], die Struktur. Oberösterreich lässt sich nicht nur in vier Viertel gliedern, vier Viertel sind zu wenig: Es ist eigentlich eine Sechstel-Landschaft, wenn man es genau nimmt. Wenn man eine Ebene drunter geht, sind es 41 Landschaftsteilräume, die in Oberösterreich als Raumeinheiten auszuweisen sind. Diese sind sehr divergierend und sehr eigenständig. Ein Großteil dieser Landschaftsteilräume ist durch bildbestimmende Gewässerstrukturen geprägt.
MR: Wir zoomen noch einmal ein bisschen rein, um jetzt den Großraum Wels, Linz, Steyr zu zeigen. Wenn du hier drüber zeichnen würdest, was würdest du für die nächsten 50 Jahre versuchen zu forcieren? Und was würdest du gerne ausschließen?
TP: Es ist ganz einfach, was ich versuchen würde. Ich würde die historischen Zentren- Strukturen suchen und diese stärken. Des Weiteren hat Oberösterreich am Sektor Bodenverbrauch von allen Bundesländern den größten Handlungsbedarf. Das heißt, hier müsste das Bundesland sein, wo gezielt Fördergelder am Bausektor in sinnvolle Konversionsprojekte, sinnvolle Verdichtungsprojekte, sinnvolle Adaptierungsprojekte, sinnvolle Programmwechsel und in die zentralen Lagen dirigiert werden. Der Umgang mit dem Bestehenden ist das Thema, die Bautätigkeit muss darauf fokussiert sein und nicht mehr auf den Neubau an den Siedlungsrändern. In keinem anderen Bundesland gibt es so viele unsinnige Einkaufszentren und Verbrauchermärkte in Randlagen, außerhalb von Zentren-Strukturen. Ich muss da den Schritt gehen, nicht nur durch ergänzende Maßnahmen die Ortszentren zu stärken, sondern ich muss auch Rückbauen. Ich muss Rückbauen, entsiegeln und ehemalige Einkaufszentren umnutzen. Daneben muss ich auch am Mobilitätssektor ansetzen und diesen gebotenen Nachhaltigkeitszielen unterstellen.
MR: Daraus resultierend, wie siehst du das Verhältnis Landschaft, Macht, Eigentum? Wie wirkt sich das auf die Kulturlandschaft in Oberösterreich aus?
TP: Die Kulturlandschaft ist immer ein Produkt ihrer Nutzung und es bilden sich gesellschaftliche Verantwortlichkeiten, Besitz- und Eigentumsinteressen und Ökonomien in der Landschaft ab. Und das ist auch in Oberösterreich manifest, wie generell in Österreich. So bildet sich etwa in Umgebung der Stifte die Macht und der Besitz der Kirche ab. Etwa in der Umgebung von Aigen-Schlägl die Wirtschaftsinteressen der Prämonstratenser als Großwaldbesitzer und Bierbrauer oder um Kremsmünster jene der Benediktiner am Landwirtschafts-, Jagd- und Fischereisektor. Wenn ich auf ein Luftbild schaue, dann sehe ich in der Waldstruktur, wo ist herrschaftlicher Waldbesitz, wo sind die Bundesforste die Besitzer, wo ist Kleinwaldbesitz, nur um ein Beispiel zu erwähnen. Es bildet sich in den Wirtschaftsregionen die Macht der Wirtschaftstreibenden und ihrer Interessen ab. Und das schon lange zurückliegend, also seit dem Höhepunkt der Eisenindustrie. Man kann Oberösterreich nicht ohne die Eisenindustrie und dahinter die Holzindustrie denken. Wenn ich das Ennstal anschaue, dann verstehe ich die Landschaft des Ennstals nur vor dem Hintergrund der Geschichte der Schmieden und Eisenhütten und der damit im Zusammenhang stehenden Forstwirtschaft und Siedlungsentwicklung. Man könnte es jetzt Fluss für Fluss durchgehen. Landschaft ist ein Abbild örtlicher Machtverhältnisse und deren Geschichte.
HP: In Oberösterreich wird viel und gerne produziert, welche Auswirkungen ergeben sich daraus?
In Oberösterreich haben Gewerbe und Industrie höchste Bedeutung. Aktuell wachsen Logistikzentren wie die Pilze aus dem Boden und verursachen unglaublichen Flächenfraß. Andererseits war und ist Oberösterreich seit den 90er-Jahren ein Vorreiter hinsichtlich interkommunaler Gewerbeparks[2]. Da ist Oberösterreich ein absolutes Positivbeispiel. Andere Bundesländer, wie die Steiermark und Niederösterreich haben diesbezüglich erst nachgezogen. Aber in Summe ist es so, dass sich Oberösterreich – trotz ambitionierter regionaler Raumordnungsprogramme – nicht durch hohe ordnungsplanerische Steuerung der Raumentwicklung auszeichnet. Wir haben die Ziele der Raumordnung, gleichzeitig haben wir die hohe Bedeutung der Wirtschafts- und Gewerbepolitik. Meist wird das Interesse eines Betriebs, sich anzusiedeln oder sich auszuweiten, höher gewichtet als die geordnete Raumentwicklung. Diese Stärke am Gewerbesektor bildet sich in der Landschaft ab. Und das macht das eingangs erwähnte, uncharmante Bild Oberösterreichs auch aus, das in seiner Außenwahrnehmung diese Rolle als traditioneller Wirtschafts- als Gewerbestandorte nicht verbergen kann und will. Das Thema Architektur und Baukultur im Zusammenhang mit Gewerbebau findet dabei leider kaum einen Platz. Steuern könnte ich das natürlich, indem ich Förderungen daran knüpfe, z.B. indem verstärkt Gestaltungswettbewerbe gemacht werden und das Thema Architektur und Baukultur in den Vordergrund gerückt wird. Aber dafür gibt es offensichtlich noch keinen politischen Konsens. Gleichzeitig gibt es aber großartige Gewerbeobjekte aus allen historischen Phasen. Es gibt wunderschöne Beispiele der Moderne wie die Tabakfabrik Linz, es gibt spannende Kraftwerksbauten wie das Kraftwerk Weyer und denkmalgeschützte Industriearchitektur, etwa die Fabrikbauensembles um den Steyrer Wehrgaben. Ich kann die singuläre Gewerbehalle finden, die in ihrer Schlichtheit überzeugt und ein Paradigma des modernen Betonbaus ist, oder ich finde wunderschöne Backsteinarchitekturen. Also, wenn ich an Architektur und Baukultur in Oberösterreich denke, dann kann ich nicht an der Gewerbe- und Industriearchitektur des Landes vorbeigehen.
MR: Wie ist es um die Landwirtschaft bestellt?
TP: Stattliche Vierkanthöfe als Ikonen zur Schau gestellter Bauernherrlichkeit prägen in weiten Teilen Oberösterreich das Bild der Agrarlandschaft. Die oft in Kuppen-Lage alleinstehenden Vierkanter heben sich deutlich von den kleinmaßstäblicheren Hof- und Weilerstrukturen, wie wir sie in den Kalkvoralpen oder etwa im Salzkammergut finden, ab. Oberösterreich ist aber auch das Land der „Sternchenbauten“, also von Bauten im Grünland, die sich oftmals perlschnurartig von einer Hofstruktur ausgehend in die Landschaft entwickeln. Örtlich ist bzw. war das Bauen im Grünland nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Man könnte es jetzt weiter differenzieren, im Salzkammergut und im Mühlviertel sind es wiederum andere Siedlungs- und Hofstrukturen, andere bildprägende Feldstrukturen und eine andere Manifestation der Erbfolge, teils überlagert durch raumverändernde Komassierungen[3] und Zweitkomasssierungen.
MR: Welche Rolle spielen die Raiffeisenverbände?
TP: Die kulturlandschaftliche Entwicklung am agrarischen Sektor wird bestimmt durch die Umsetzung der rahmengebenden ÖPUL[4]-Richtline, die der Abgeltung der außerwirtschaftlichen Leistung der Landwirtschaft dient. Mehr als 50 Prozent der Einkommensbildung am landwirtschaftlichen Sektor kommt über Förderungszahlungen zustande. Diese Förderungszahlungen und die Administration des ÖLPUL-Systems in Österreich sind nicht zuletzt mit den Interessen des Raiffeisenverbandes[5] und der Lagerhäuser verbunden. In diesem Sinn bilden sich die Interessen des Raiffeisenverbandes – im Positiven wie im Negativen – auch im Bild der Kulturlandschaft und in der Form der agrarischen Flächenbewirtschaftung ab.
MR: Welche Rolle spielt die oberösterreichische Zivilgesellschaft in diesen Machtverhältnissen?
TP: Oberösterreich ist ein Land der Vereine. Sie werden sehr stark vom Land gefördert, als Identitätsträger wie auch als Säulen eines gewissen Konservativismus. Also die Zivilgesellschaft, organisiert in den Freiwilligen Feuerwehren, Goldhauben-Vereinen, der Blasmusik, in der Landjugend und sonstigen Vereinen, hat eine sehr hohe Bedeutung. Das Fördern dieses traditionellen Vereinswesens erstickt aber oftmals auch andere Initiativen, die aus einem spezifischen Anliegen oder einem gemeinsamen Interesse heraus Platz zu greifen versuchen.
MR: Welche Rolle spielt die Feuerwehr?
TP: Wenn wir an einem Ort für längere Zeit planerisch tätig werden, hat es sich oftmals bewährt, zu einem geeigneten Zeitpunkt auch mit dem Hauptmann der Freiwilligen Feuerwehr Kontakt aufnehmen. Er ist – neben den Gemeindeverantwortlichen, dem Dorfwirt und dem Pfarrer – ein zentraler Informationsträger und -multiplikator. Die Freiwilligen Feuerwehren sind ein soziales Bindeglied, in einem Zeitalter, wo der Rückzug der einzelnen Leute in die Privatheit fast psychisch belastende Ausmaße annimmt. Die Wirtshäuser funktionieren teilweise nicht mehr als sozialer Treffpunkt, das Feuerwehrhaus übernimmt teilweise deren Rolle.
HP: Der nächste Themenbereich betrifft den Klimawandel. Wie engagierst du dich aktuell, um die vereinbarten Klimaziele[6] zu erreichen?
TP: Ganz konkret durch meine Bürotätigkeit am Landschafts- und Umweltplanungssektor. Zuletzt etwa durch die Mitwirkung als Gutachter im Auftrag der OÖ-Landesregierung bei der strategischen Umweltprüfung für den Stromnetzausbau im Zentralraum Oberösterreich, wo es darum ging, die landschafts- und ressourcenschonendste Lösung für die Schaffung jener Stromnetzkapazitäten zu finden, die den Einsatz emissionsarmer Elektrolichtbogenöfen durch die VOEST wie auch die Netzanbindung neuer Photovoltaikfreianlagen möglich machen. Das Limitierende am Sektor der erneuerbaren Energien in Österreich und insbesondere auch in Oberösterreich ist die Netzkapazität. Im oberösterreichischen Zentralraum werden Photovoltaikfreianlagen aktuell nicht errichtet, weil es keine entsprechenden Netzkapazitäten gibt. Es ist jahrzehntelang versäumt worden, diese bereitzustellen. Hierfür ist es notwendig einen möglichst kurzen Entscheidungsweg bis zur Umweltverträglichkeitsprüfung für diesen Stromnetzausbau zu haben, um schnell die notwendigen Ressourcen am Sektor des hochrangigen Stromfreileitungsnetzes herzustellen. Es werden dabei fast durchgehend bestehende Stromtrassen genutzt, um ein Ringleitungsnetz aufzubauen, das redundant, krisensicher, störungsarm und leistungsstark ist. Da haben Politik, Raumordnung, alle Planer, die Austrian Power Grid AG und die Gemeinden nach anfänglichen Problemen dann sehr gut zusammengespielt.
HP: Eine ergänzende Frage zur Energie. Wie schaut es in Oberösterreich mit Windkraft aus?
TP: Windkraft ist in Oberösterreich im Moment nicht das große Thema, da von politischer Seite das Thema Photovoltaik priorisiert wird. Es liegt eine Studie der oberösterreichischen Umweltanwaltschaft gemeinsam mit Bird Life Austria vor, die Konfliktzonen für die Windkraftnutzung in Oberösterreich ausgewiesen hat. Und diese nehmen nahezu das gesamte Bundesland ein. Es besteht aktuell nur über wenige Eignungszonen Konsens. Die Errichtung größerer Windparks ist dadurch nahezu verunmöglicht.
MR: Wegen der Vögel?
TP: Wegen der Vögel, wegen des Kollisionsrisikos für Vögel wie auch Fledertiere. So werden etwa aktuell Bemühungen, im Mühlviertel Windparkprojekte zu realisieren, durch den Artenschutz ausgebremst. Einer Interessensabwägung steht aber aktuell ein fehlendes politischen Bekenntnis zum Windkraftausbau entgegen. Aus rein fachlicher Sicht erscheinen die Probleme vermutlich lösbar. Etwa ein geeignetes Abschaltregime für die Windräder zu Vogelzugzeiten oder auf Grundlage des Einsatzes geeignete und im Ausland mittlerweile vielfach bewährte Vogelradarsysteme. Diesbezüglich wird es in Oberösterreich voraussichtlich in den nächsten Jahren noch intensive Diskussionen geben.
HP: Sollte man zur Bewältigung der Klimawende nicht sowohl auf Wind- als auch auf Sonnenenergie setzen?
TP: Grundsätzlich ist es am Sektor Klimaschutz jedenfalls erforderlich, nicht nur auf einen erneuerbaren Energieträger wie etwa die Photovoltaik zu setzen, sondern auch bei gegebenem Windkraftpotential auf die Windenergie wie auch die Wasserkraft – dabei insbesondere Erneuerungs- und Ertüchtigungsprojekte – zu setzen. Ich brauche alles! Es gibt profunde Gutachten von energiewirtschaftlicher Seite, dass es nicht reicht, auf einen Energieträger zu setzen. Sie müssen einander ergänzen, insbesondere auch in Oberösterreich. Und ich gehe mit sehr erhöhter Wahrscheinlichkeit davon aus, dass nach längeren Diskussionen auch die Windkraft in Oberösterreich einen Schub bekommen wird. Aktuell steht der Windkraftausbau allerdings – wie gesagt – weitestgehend still.
MR: Wie kann das sein? Österreich ist Mitgliedsland der EU. Niederösterreich ist jenes Gebiet mit den meisten Windrädern, gemeinsam mit dem Burgenland. Tirol hat keine, in Kärnten und Salzburg gibt es auch nur wenige. Österreich ist ein föderalistisches Land, aber dass es bei so einem wichtigen Thema dann gleich zum Stillstand kommt?
TP: In den Klimastrategien und auch im nationalen Klimaplan ist festgeschrieben, dass in den Windkrafteignungszonen – und die gibt es auch in Oberösterreich – die Windkraft auszubauen ist. Das Problem ist der Föderalismus und dass es nicht eine österreichweit akkordierte Umsetzungsstrategie gibt. Es gibt eine generelle Zielstrategie in Österreich, aber am operationalen Sektor sind die einzelnen Bundesländer autonom. Es fehlt der nationale Dirigismus und hier scheitert die Energiepolitik an den föderalistischen Prinzipien. Zur Ehrenrettung muss man feststellen, die besten Windkraftstandorte liegen natürlich im nördlichen Burgenland und im nordöstlichen Niederösterreich. Dort ist der Ertrag am höchsten, im Mühlviertel ist dieser zwar ein bisschen geringer, allerdings immer noch für einen Windkraftausbau geeignet. Wir werden die Klimaziele nicht erreichen, wenn wir nicht auch die Windkraft in Oberösterreich intelligent, natur- und landschaftsverträglich nutzen.
HP: Du hast angesprochen, dass in Oberösterreich ein genaueres Wissen über den Versiegelungsgrad und die Bodennutzung da ist. Welche Datengrundlage gibt es?
TP: Oberösterreich ist der Vorreiter am Sektor Bodenfunktionsbewertung[7], in der Analyse und Datenbereitstellung. Gleichzeitig ist es aber auch Vorreiter beim Bodenverbrauch. Oberösterreich ist mittlerweile der nationale Sieger und hat die Steiermark überholt. Generell sind die Versiegelungsdaten eine Auswertung der Raumordnungsdaten, wo mit einem gewissen Abschlag die Baulandflächen als versiegelte Flächen hergenommen werden. Deswegen ist es auch kein Geheimnis, dass die Versiegelungsdaten, die in Österreich angegeben sind, nicht korrekt sind, weil sie nicht genau erfasst wurden. Wenn, dann könnte ich das nur mit der tatsächlichen Auswertung der Bodennutzung, auf einem sehr feinen Niveau, feststellen. In Wirklichkeit ist die Bodenversiegelung wohl etwas geringer als dargestellt. Politisch ist es schon wichtig zu kommunizieren, dass wir bei rund 13 Hektar Bodenverbrauch pro Tag in Österreich liegen.
Hoher Bodenverbrauch geht auch auf den Verkehrsflächenanteil zurück. Oberösterreich hat einen der schlechtesten Modal Splits am Verkehrssektor in Österreich. Das Auto und der motorisierte Individualverkehr waren und werden immer noch vorrangig gegenüber der Förderung des öffentlichen Verkehrs behandelt. In den nächsten Jahren wird bzw. muss die sanfte Mobilität ein zentrales Thema werden. Da muss ich dann irgendwann auch im Zusammenhang mit dem hohen Verkehrsflächenanteil über einen örtlichen Rückbau versiegelter Verkehrsflächen nachdenken. Vielleicht kann Oberösterreich einmal Vorreiter am Sektor Straßenrückbau und Minimierung der großen Flächen für den stehenden Verkehr sein. Aktuell ist Oberösterreich aber noch ein Land der Parkplätze, Parkhäuser und Park-and-Ride-Anlagen, die Landschaftssituationen bisweilen ikonografisch prägen. Dies gilt es kritisch zu hinterfragen.
MR: Wir möchten gerne eine emotionale Vorausschau von dir: Glaubst du, dass das Auto in Oberösterreich bald allein fahren kann? Werden wir es noch erleben?
TP: Ja, wir werden das autonome Fahren erleben. Das gibt es schon, es wird ausprobiert. Und wenn man sich ein Tesla kauft, und sich den Autopiloten freischalten lässt, dann braucht man nur das Lenkrad loslassen und das Auto fährt allein durch Oberösterreich. Alles schon mit nicht gutem Bauchgefühl mitgemacht. Oberösterreich ist neben der Steiermark aber ein Automobil-Land. Da wird geforscht, nicht nur im Grazer Umland, sondern auch in Oberösterreich, von Steyr bis Linz. In diesem Sinn werden vermutlich auch von hier aus wesentliche Impulse zum autonomen Fahren gesetzt werden. Autonomes Fahren darf dabei aber nicht das autonome Denken über Mobilitätsvermeidung und sanfte Mobilität ersetzen.
MR: Glaubst du, wenn das Auto autonom fahren kann, dass dann auch die Raumplanung algorithmisch errechnet werden könnte?
TP: Nein, das kann es nicht. Schönheit lässt sich nicht algorithmisch abbilden. Es braucht auch ein irrationales Korrektiv. Die Landschaft und die Umwelt in ihren Facetten sind ein offenes System. Ein offenes System lässt sich nur indikatororientiert und nicht vollständig beschreiben. In dem Sinn würde viel verloren gehen, wenn ich parametrisch oder algorithmische Raumordnung vorantreiben würde. Ich gehe jetzt noch mal einen Schritt zurück und sage, natürlich kann ich automatisiert und algorithmisch Szenarien erstellen lassen. Das wird in Zukunft auch so sein. Diese Szenarien müssen vor deren Umsetzung in vielerlei Hinsicht durch den Menschen situativ und kritisch hinterfragt, geprüft und überarbeitet werden. Die Automatisation ersetzt nicht das Nachdenken. Ich kann automatisiert vordenken, aber ich muss dann trotzdem über die Ergebnisse nachdenken, sie bewerten, sie prüfen. Besonders wenn es um Themen wie Schönheit, wie Ästhetik, wie örtliche Authentizität geht, lässt sich das selten algorithmisch fassen. Beziehungsweise wenn Planung partizipativ erfolgen soll, wäre das das Ausschalten der Mitsprache, das Ausschalten des gemeinschaftlichen Nachdenkens. Das lässt sich sehr schwer parametrisch abbilden. Wir müssen diese Möglichkeiten, KI-gestützte und automatisierte Szenarien zu erstellen, nutzen, aber sie ersetzen nicht unsere Denkarbeit. Es sind Werkzeuge. Ich muss wissen, wie ich das Werkzeug führe und ob es für die Aufgabe das richtige Werkzeug ist.
HP: Wird sich die Arbeit durch die Zuhilfenahme von künstlicher Intelligenz entsprechend erleichtern?
TP: In der Grundlagenforschung, ja. Die Raumordnung unterscheidet zwischen der Grundlagenforschung und der Mustererkennung im Rahmen der Analyse. Dann im Bereich der Szenario-Bildung für einzelne Sektoren, ob das jetzt die Demografie ist, ob das die Analyse von Supply Chains ist oder Mobilitätsszenarien, all das kann ich modellieren. Aber um es zusammenzuführen, zu überlagern und praktikable Ergebnisse zu erzielen, brauche ich die kreative Denkarbeit und Prüfleistung. Die wird sich in den seltensten Fällen automatisieren lassen.
HP: Zu guter Letzt, bitte spiel den Joker aus: Du hast die Möglichkeit, umgehend und unwiderruflich zwei Maßnahmen zu setzen. Welche wären das?
TP: Das ist eine schwierige Frage. Ich gehe auf eine übergeordnete Ebene: Ich würde in die Landesverfassung ein Gemeinwohlparadigma einführen, dem alles gesellschaftliche und politische Handeln zu unterstellen ist. Ein Gemeinwohlparadigma, das dem Nachhaltigkeits- und Resilienzgrundsatz – wie volkswirtschaftliches Denken – und nicht bloß einem betriebswirtschaftlichen Kalkül unterstellt ist. Das wäre eine zentrale Forderung, z.B. muss dann Wohnen leistbar und gleichzeitig schön, landschaftsverträglich und resilient sein. Dann kippt plötzlich alles. Das heißt, Oberösterreich darf Bhutan werden. Bhutan misst den Wohlstand des Himalayastaates über das „Bruttonationalglück“[8] und unterstellt das staatliche Handeln dem Gemeinwohlgrundsatz.
MR: Du hättest noch einen zweiten Joker, aber den brauchst du dann nicht mehr. Vielen Dank für das Gespräch.
[1] Molasse ist die Bezeichnung für Sedimente und Sedimentgesteine, die bei der Abtragung eines Faltengebirges ab der letzten Phase seiner Bildung (Hebungsphase) bis zu seiner weitgehenden Einebnung zu einem Gebirgsrumpf entstehen. Molasse wird unterschieden von Flysch, der faktisch ausschließlich während der Gebirgsbildung zur Ablagerung kommt. https://de.wikipedia.org/wiki/Molasse (2024 01 07)
[2] Interkommunale Betriebsansiedlungen (INKOBA): Die betriebliche Standort- und Flächenentwicklung orientiert sich in Oberösterreich an einer strategischen Abstimmung auf Landesebene und an regionaler Kooperation. Koordiniert und gesteuert werden diese Aktivitäten durch die Business Upper Austria – OÖ. Wirtschaftsagentur GmbH. https://www.land-oberoesterreich.gv.at/237130.htm (2024 01 07)
[3] Flurbereinigung
[4] ÖPUL: Österreichisches Programm zur Förderung einer umweltgerechten, extensiven und den natürlichen Lebensraum schützenden Landwirtschaft
[5] Raiffeisen ist der Marken- bzw. Namensteil von mehr als 330.000 Unternehmen, die sich weltweit mit landwirtschaftsnahen Produkten im vor- und nachgelagerten Bereich sowie mit allgemeinen Finanzdienstleistungen (Banken) befassen. Der Österreichischer Raiffeisenverband ist die zentrale Interessenvertretung aller Raiffeisengenossenschaften und der anderen Organisationen, Unternehmen und Beteiligungsgesellschaften in Österreich. de.wikipedia.org/wiki/Raiffeisen#Raiffeisenverb%C3%A4nde (2024 01 07)
[6] www.oesterreich.gv.at/themen/bauen_wohnen_und_umwelt/klimaschutz/1/Seite.1000310.html (2024 01 07)
[7] Als erstes Bundesland hat Oberösterreich, basierend auf den Daten der elektronischen Bodenkarte (eBOD), "Bodenfunktionskarten" erstellt. www.land-oberoesterreich.gv.at/106895.htm (2024 01 07)
[8] Das Bruttonationalglück (BNG), ist der Versuch, den Lebensstandard in Bhutan in breit gestreuter, humanistischer und psychologischer Weise zu definieren und somit dem herkömmlichen Bruttonationaleinkommen, einem ausschließlich durch Geldflüsse bestimmten Maß, einen ganzheitlicheren Bezugsrahmen gegenüberzustellen. de.wikipedia.org/wiki/Bruttonationalgl%C3%BCck (2024 01 07)