Stay in touch ist eine Kollaboration der Kunstuniversität Linz, Abteilung Kulturwissenschaft mit dem Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK), der Zeitschrift für Kulturwissenschaften, dem ilinx-Magazin und weiteren Partnerinstitutionen.
Es wird eine Bibliothek von Texten zusammengestellt, die dabei unterstützen, einen solidarischen und informierten Umgang mit der Pandemie zu finden. Es werden klassische und aktuelle Texte aus 2500 Jahren kommentiert und zur Verfügung gestellt.
Diese Woche:
Michel Foucaults »Überwachen und Strafen« und die »Vorlesungen zur Gouvernementalität«
wiedergelesen
Von Markus Arnold
Michel Foucault ging an zentralen Stellen seines Werks, dort wo er eine Typologie der modernen Regierungstechniken entwickelt, immer wieder auf Epidemien ein. Bereits in Wahnsinn und Gesellschaft (frz. Orig. 1961) hatte er die Maßnahmen zum Ausschluss der Leprakranken aus der mittelalterlichen Gesellschaft als Modell für spätere soziale und institutionelle Ausschließungspraktiken beschrieben (1. Kap. Stultifera Navis [=Das Narrenschiff], 19ff.). Auch später analysierte er, wie die Bekämpfung von Epidemien, wie die der Pest oder der Pocken, zur Entwicklung und Durchsetzung neuer moderner Regierungspraktiken führte.
So beginnt Foucault im wohl meistzitierten Kapitel von Überwachen und Strafen, dem Kapitel über Panoptismus, seine Analyse von Benthams Panoptikum überraschenderweise nicht mit Bentham, sondern mit einer Analyse, wie im 17. Jahrhundert die Pest bekämpft wurde. Er präsentiert die Regierungsmaßnahmen gegen die Pest und jene gegen die Lepra als zwei »Grundmodelle«: einerseits als »Ausschließung«, die ganze Menschengruppen aus der Gemeinschaft verbannt und zu »Aussätzigen« erklärt (Lepra), und andererseits als »Einschließung«, die eine individualisierende disziplinäre Kontrolle des Raums und der Menschen ermöglicht (Pest). Denn die Pest sei »die Probe auf die ideale Ausübung der Disziplinierungsmacht.« Diese idealtypisch unterschiedenen Modelle der Lepra und der Pest sind aber, wie Foucault betont, nicht unvereinbar; im Gegenteil:
»Das Eigentümliche des 19. Jahrhunderts ist es, auf den Raum der Ausschließung, der symbolisch vom Aussätzigen (und tatsächlich von den Bettlern, den Landstreichern, den Irren, den Gewalttätigen) bewohnt war, die Machttechnik der parzellierenden Disziplin anzuwenden.« (ÜSt 255)
So kann Foucault in Überwachen und Strafen das Benthamsche »Panoptikum« bzw. das allgemeine Überwachungsprinzip des »Panoptismus« auf jene zur Bekämpfung der Lepra und der Pest entwickelten politisch-administrativen Techniken zurückführen:
»Die hartnäckige Grenzziehung zwischen dem Normalen und dem Anormalen, der jedes Individuum unterworfen ist, verewigt und verallgemeinert die zweiteilende Stigmatisierung und die Aussetzung des Aussätzigen. Die Existenz zahlreicher Techniken und Institutionen, die der Messung, Kontrolle und Besserung der Anormalen dienen, hält die Disziplinierungsverfahren am Leben, die einst von der Furcht vor der Pest herbeigerufen worden sind. Alle Machtmechanismen, die heute das Anormale umstellen, um es zu identifizieren und modifizieren, setzen sich aus jenen beiden Formen zusammen, von denen sie sich herleiten. Das Panoptikum von Bentham ist die architektonische Gestalt dieser Zusammensetzung.« (ÜSt 256)
Doch das ist nicht das letzte Wort Foucaults zur Rolle der Epidemien. In seinen späteren Vorlesungen zur Gouvernementalität (1977-78) wird er mit der Pockenimpfung eine weitere Technik der Epidemiebekämpfung als drittes Grundmodell moderner Regierungstechniken einführen. Hier, am Beginn seiner Vorlesungen, kommt er wieder auf die Maßnahmen gegen Lepra und Pest zurück, um sich dann aber der im 18. Jahrhundert gegen die Pocken entwickelten medizinischen Technik der Impfung zuzuwenden. Die Pockenimpfung ist für ihn ein paradigmatisches Beispiel für das, was er »Sicherheitsdispositiv« nennt, d.h. für die der so genannten »Biopolitik« eigenen »liberalen« Regierungstechnik. Sie ist ein Beispiel für eine Regierungstechnik, der es um »Sicherheit« und (statistische) »Normalisierung« geht und sich als Alternative zu den in Überwachen und Strafen beschriebenen Disziplinartechniken präsentiert.
Denn im Gegensatz zu den »Pestverordnungen, wie man sie am Ende des Mittelalters, im 16. und noch im 17. Jahrhundert formuliert sieht«, ist das Problem der Pocken, wie es sich den Impfpraktiken seit dem 18. Jahrhundert stellt, ein ganz anderes: Mit der Erfindung der Impfungen verändert sich das primäre Ziel der Regierungen; ihr Problem ist nicht mehr,
»eine Disziplin durchzusetzen, obgleich die Disziplin zu Hilfe gerufen wird, das grundlegende Problem ist vielmehr zu wissen, wie viele Leute von Pocken befallen sind, in welchem Alter, mit welchen Folgen, welcher Sterblichkeit, welchen Schädigungen und Nachwirkungen, welches Risiko man eingeht, wenn man sich impfen läßt, wie hoch für ein Individuum die Wahrscheinlichkeit ist, zu sterben oder trotz Impfung an Pocken zu erkranken, welches die statistischen Auswirkungen bei der Bevölkerung im allgemeinen sind, kurz: ganz und gar ein Problem, das nicht mehr dasjenige des Ausschlusses wie bei der Lepra ist, das nicht mehr dasjenige der Quarantäne ist wie bei der Pest, sondern vielmehr das Problem der Epidemien und der medizinischen Feldzüge, mit denen man epidemische oder endemische Phänomene einzudämmen versucht.« (Foucault 2004a, 25f.)
Mit der Erfindung der Pockenimpfung und der Entwicklung des Konzepts der »Sicherheitsdispositive« geht es also nicht mehr primär um die Herrschaft über ein »Territorium« und die Disziplinierung gehorsamer Untertanen, sondern um die »Bevölkerung« und deren »Regulierung«. Wobei die »Bevölkerung« das durch Statistik konstruierte Konzept der Menschen als Gattungswesen meint, ebenso wie das »Leben«, das die Biopolitik als Gegenstand ihrer politischen Interventionen zu regulieren versucht, das Leben der Bevölkerung meint, wie es sich der Regierung in den Statistiken zeigt.
Zentral ist für diese (insbesondere von liberalen Ökonomen propagierte) Regierungstechnik das urbane Modell einer »offenen Stadt«: Denn es sind insbesondere die modernen Hafen- und Handelsstädte, in denen die Bewegung von Menschen und Gütern zwar reguliert, aber möglichst nicht unterbunden werden sollte. Handelsstädte als Knotenpunkte in globalen Handelsnetzwerken leben davon, dass Menschen und Waren herein- und hinausströmen können. Ihre offene Wirtschaft werde von den »natürlichen« Marktgesetzen von Angebot und Nachfrage bestimmt, die zwar von der Regierung punktuell reguliert, aber nicht durch zu viele Vorschriften behindert werden dürfe. Eine Regierungstechnik, die bis heute von liberalen Ökonomen propagiert wird. Im Falle einer Epidemie ist die Aufrechterhaltung einer »offenen Stadt« aber nur möglich, wenn der Regierung ein geeigneter Impfstoff zur Immunisierung der Bevölkerung zur Verfügung steht.
Foucault sieht dabei Gemeinsamkeiten zwischen dem medizinischen Modell der Impfung und der liberalen Regulierung des Marktes in einer »offenen« Handelsstadt. Die Impfung nutzt bestehende biologische Prozesse, wie die des menschlichen Immunsystems, um mit deren Hilfe die Ausbreitung der Krankheit einzudämmen (vgl. Foucault 2004, 92f.). Die liberale Marktordnung nutzt bestehende ökonomische Prozesse, wie Angebot und Nachfrage, um sie durch punktuelle regulierende Eingriffe zu steuern. Ähnlich wie die Regierung die Marktgesetze als »naturgegeben« anerkennt und nur punktuell eingreift, setzen Impfungen voraus, dass Krankheiten und die Reaktionen des menschlichen Immunsystems etwas ganz »Natürliches« sind, deren Verlauf regelmäßigen, statistisch erfassbaren Mustern folgt. Diesen Verlauf einer Epidemie kann man mit Impfungen verändern, aber nur in den seltensten Fällen ganz unterbinden.
Dieses dritte »Grundmodell« der modernen Regierungspraktiken (neben dem Ausschluss aus der Gemeinschaft und der Quarantäne als disziplinärer Überwachung) zwang Foucault auch seine früheren Äußerungen zur »Normalisierung« zu überdenken: In Überwachen und Strafen hatte Foucault Disziplinartechniken, die das Verhalten der Menschen durch klare Verhaltensvorschriften einer fixen Verhaltensnorm zu unterwerfen versuchen (z.B. durch Hygienevorschriften und social distancing), noch »Normalisierung« genannt (ÜSt 236ff; ebenso noch in Der Wille zu Wissen [=Sexualität und Wahrheit 1], 139). Doch um in seinen Vorlesungen zur Gouvernementalität das dritte Modell in seine Machtanalysen zu integrieren, entschied er sich für eine terminologische Umbenennung: Er nannte nun die in Überwachen und Strafen beschriebenen disziplinären Methoden der Verhaltensvorschriften »Normation« und reservierte den Begriff »Normalisierung« für jene dem Sicherheitsdispositiv bzw. der Biopolitik eigene Form der an statistischen Modellen orientierten regulierenden Eingriffen in die Bevölkerung:
»[D]ie Disziplin legt die Verfahren fortschreitenden Drills und unablässiger Kontrolle fest und etabliert schließlich von da ausgehend die Spaltung zwischen denen, die als untauglich, als unfähig angesehen werden, und den anderen. […] Die disziplinarische Normalisierung besteht darin, zunächst ein Modell, ein optimales Modell zu setzen, das in Bezug auf ein bestimmtes Resultat konstruiert ist, und der Vorgang der disziplinarischen Normalisierung besteht darin, zu versuchen, die Leute, die Gesten, die Akte mit diesem Modell übereinstimmen zu lassen, wobei das Normale genau das ist, was in der Lage ist, sich dieser Norm zu fügen, und das Anormale ist das, was dazu nicht in der Lage ist. Mit anderen Worten, nicht das Normale und das Anormale sind grundlegend und ursprünglich für die disziplinarische Normalisierung sondern die Norm. […] Wegen dieser ursprünglichen Eigenschaft der Norm im Verhältnis zum Normalen, wegen der Tatsache daß die disziplinarische Normalisierung von der Norm zur abschließenden Spaltung des Normalen und des Anormalen führt, ziehe ich es vor zu sagen daß sich bei dem, was in den Disziplinartechniken geschieht, eher um eine Normation [normation] handelt als um eine Normalisierung.« (Foucault 2004a, 89f.)
Der zentrale Unterschied zwischen der disziplinären »Normation« und der »Normalisierung« der Sicherheitsdispositive ist, dass die Disziplinen von einer Norm ausgehend das Normale und Anormale bestimmen, während die Sicherheitsdispositive zuallererst empirisch das statistisch Normale und Anormale innerhalb einer Bevölkerung ermitteln, um auf dieser Grundlage einen statistischen Mittelwert als Norm zu konstruieren (z.B. die normale Sterblichkeitsrate, mit deren Hilfe Abweichungen bestimmt werden). Damit wird der Begriff der »Normalisierung« von Foucault für jene Regierungstechniken reserviert, deren Maßnahmen entweder an einem (flexiblen) statistischen Durchschnitt orientiert sind (indem man z.B. die durchschnittliche Sterberate in einer Bevölkerung durch Impfen zu senken oder das durchschnittliche »Wirtschaftswachstum« eines Landes zu steigern versucht) oder mit denen man versucht, die eigenen statistischen Werte im Vergleich zu den Werten anderer Akteure zu verbessern (etwa in nationalen Rankings, um z.B. »besser als der europäische Durchschnitt« zu werden).
Diese neue Form der »Normalisierung« analysiert Foucault unter anderem anhand der Pockenimpfung. Er betont, dass die Impfung als medizinische Praxis etwas ganz Neues war; so neu, dass sie am Anfang gar nicht mit den existierenden medizinischen Theorien in Einklang gebracht werden konnte. Dabei identifiziert er vier Merkmale der Impfung, die sie bei ihrer Einführung in Widerspruch zu den bestehenden, theoretisch wohlbegründeten medizinischen Behandlungstechniken setzte:
»[V]on 1720 an [verfügte man], mit der sogenannten Impfung oder Variolation, und dann von 1800 an mit der Vakzination über Techniken […], die das vierfache, für die medizinischen Praktiken der Zeit absolut ungewöhnliche Merkmal aufweisen, erstens absolut präventiv zu sein, zweitens zuverlässig zu sein und nahezu totalen Erfolg mit sich zu bringen, drittens, im Prinzip und ohne größere materielle oder ökonomische Schwierigkeiten auf die gesamte Bevölkerung allgemein anwendbar zu sein; und schließlich und vor allem weist zunächst die Variolation und selbst noch die Vakzination am Anfang des 19. Jahrhunderts diesen vierten, beträchtlichen Vorteil auf, jeglicher medizinischen Theorie völlig fremd zu sein. Die Praxis und der Erfolg von Variolation und Vakzination waren in den Begriffen der zeitgenössischen medizinischen Rationalität undenkbar. Es war eine rein faktische Gegebenheit, […], und zwar bis die Medizin in der Mitte des 19. Jahrhunderts, ungefähr mit Pasteur, das Phänomen rational erfassen konnte.« (Foucault 2004a, 91)
Nur wegen diesem Neuen, am Anfang noch nicht Denkbaren, konnte die Pockenimpfung – zusammen mit den liberalen Markttheorien der Ökonomen – die bestehenden Regierungstechniken grundlegend verändern. Dies führt aber zu der Frage, wie Impfungen, diese medizinische Praxis ohne medizinische Theorie, letztlich doch in die medizinische Theorie integriert wurde und wie das die Gesundheitspolitik bis heute verwandelt hat. Foucault identifiziert zwei Faktoren:
»Was ist geschehen, und durch welche Effekte sind diese rein empirischen Techniken in die Ordnung dessen eingedrungen, was man die medizinische Polizei nennen könnte? Ich denke, daß zunächst die Variolation und dann die Vakzination von zwei Unterstützungen profitiert haben […]. Erstens, sicherlich erlaubte es diese bestimmte, allgemein anwendbare Eigenschaft der Vakzination und der Variolation, das Phänomen dank der zu Verfügung stehenden statistischen Instrumente in Begriffen der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu denken. In diesem Rahmen kann man sagen, daß Variolation und Vakzination von einer mathematischen Unterstützung profitiert haben, die zugleich eine Art Integrationskraft im Inneren der zu der Zeit akzeptablen und akzeptierten Rationalitätsfelder gewesen ist. […] [D]er zweite Faktor scheint mir die Tatsache zu sein, daß Variolation und Vakzination sich auf eine mindestens analoge Weise und durch eine ganze Serie von bedeutenden Ähnlichkeiten in die anderen Sicherheitsmechanismen eingliederten […]. [Denn ich] denke, daß man durch diese typische Sicherheitspraxis hindurch eine gewisse Anzahl von Elementen sich abzeichnen sehen kann, die ganz wichtig sind für die weitere Ausdehnung der Sicherheitsdispositive im allgemeinen.« (Foucault 2004a, 91f.)
Dieser zweite Faktor, die Ähnlichkeiten zu den anderen Sicherheitsdispositiven, bestehen in vier neuen Begriffen: dem Fall, dem Risiko, der Gefahr und der Krise:
»Erstens, was sieht man durch all das, was in der Impfpraxis geschieht, in der Überwachung, der man die Leute unterzieht, die geimpft worden sind, in der Gesamtheit der Berechnungen, durch die man erfahren will, ob es wirklich der Mühe wert ist, die Leute zu impfen oder nicht, und ob man riskiert, an der Impfung zu sterben oder eher an den Pocken selbst? […] Von dem Moment an, wo man im Zusammenhang mit den Pocken quantitative Erfolgs- und Mißerfolgsanalysen, Analysen des Mißlingens und Gelingens macht, sobald man die unterschiedlichen Eventualitäten von Tod und Verseuchung berechnet, wird die Krankheit […] als eine Verteilung von Fällen in einer Bevölkerung, die wiederum in der Zeit und im Raum umschrieben wird. Es handelt sich folglich um das Auftauchen jenes Fallbegriffs, der nicht der individuelle Fall ist, sondern eine Art und Weise, das kollektive Phänomen der Krankheit zu individualisieren oder, jedoch über den Modus der Quantifizierung sowohl des Rationalen als auch des Kennzeichenbaren, die Phänomene zu kollektivieren und im Inneren des kollektiven Feldes die individuellen Phänomene zu integrieren.« (Foucault 2004a, 93f.)
Der (moderne) statistische Fallbegriff führt unmittelbar zum zweiten Konzept: dem Risiko.
»Wenn die Krankheit so auf der Ebene der Gruppe und auf der Ebene eines jeden Individuums erfaßbar ist, kann man mit diesem Begriff, in dieser Analyse der Fallverteilung mit Bezug auf jedes Individuum oder jede individualisierte Gruppe kennzeichnen, wie groß das Risiko für jeden ist, sei es, die Blattern zu bekommen, sei es, daran zu sterben oder davon geheilt zu werden usw. Man [kann] also für jedes Individuum, dessen Alter, dessen Wohnort gegeben ist, man kann gleichermaßen für jede Altersschicht für jede Stadt, für jeden Beruf bestimmen, wie groß das Erkrankungs- oder Sterberisiko ist.« (Foucault 2004a, 94)
Die Berechnung des Risikos ermöglicht – drittens – die Berechnung der Gefahr, denn die
»Risikoberechnung zeigt alsbald, daß die Risiken nicht die gleichen sind für alle Individuen, in jedem Alter, unter allen Bedingungen, an allen Orten oder in allen Milieus. Es gibt also Differential-Risiken, die gewissermaßen Zonen mit höherem Risiko und Zonen mit, im Gegenteil, […] niedrigerem Risiko auftreten lassen. Das heißt, man kann auf diese Weise kennzeichnen, was gefährlich ist. Es ist, unter dem Gesichtspunkt der Pocken betrachtet, gefährlich, jünger als drei Jahre zu sein. Unter dem Gesichtspunkt des Pockenrisikos betrachtet ist es gefährlicher, in der Stadt als auf dem Land zu leben. Also nach dem Fall und dem Risiko ein dritter wichtiger Begriff, der Begriff der Gefahr.« (Foucault 2004a, 95)
Das »Risiko« zu erkranken, wird nun statistisch messbar. Was auch die Regierungsmaßnahmen, die das Risiko zu erkranken senken sollen, einer empirisch-quantitativen Evaluation durch Experten zugänglich macht. Denn das Risiko ist nicht etwas Statisches, sondern unterliegt an verschiedenen Orten dynamischen Veränderungen in der Zeit, die durch Interventionen beeinflusst und durch statistische Kurven in ihrem zeitlichen Verlauf dargestellt werden können. Um die natürliche Dynamik der zeitlichen Entwicklung erfassen zu können, greift man – viertens – auf das Konzept der Krise zurück. Denn man kann nun
»anders als unter der allgemeinen Kategorie der Epidemie, Räume mit Phänomenen der Überlastung, der Beschleunigung, der Zunahme kennzeichnen, die bewirken, daß die Zunahme der Krankheit – in einem gegebenen Moment und an einem gegebenen Ort – droht, auf dem recht gewissen Weg der Ansteckung die Fälle zu vervielfachen, die ihrerseits weitere Fälle vervielfachen, und zwar einer Tendenz, einer Neigungslinie entsprechend […]. Diese Phänomene der Überlastung, die regelmäßig entstehen und die sich auf ebenso regelmäßige Weise aufheben, sind im großen Ganzen das, was man – nicht genau im medizinischen Vokabular übrigens, weil das Wort bereits gebraucht wurde, um etwas anderes zu bezeichnen –, sie sind ungefähr das, was man die Krise nennt. Die Krise ist jenes Phänomen der zirkulären Überlastung, die sich nur eindämmen läßt entweder durch einen […] natürlichen und superioren Mechanismus, der sie abschwächt [wie z.B. das menschliche Immunsystem, M.A.], oder durch eine künstliche Intervention [wie etwa die Impfung, M.A.].« (Foucault 2004a, 95f.)
Diese vier Merkmale verbindet die medizinische Praxis der Impfungen mit den anderen politischen Technologien der Sicherheitsdispositive.
Doch wie unterscheidet sich die Pockenimpfung als Regierungstechnik von der Pestbekämpfung, das biopolitische Sicherheitsdispositiv vom Panoptismus der Disziplinarmacht? Welche Machtökonomien bilden sich um diese Regierungspraktiken der disziplinären Normation und der biopolitischen Normalisierung? Foucault über die biopolitischen Mechanismen der Sicherheitsdispositive:
»[A]ll diese Mechanismen – und ich glaube, damit sind wir am zentralen Punkt angelangt –, diese Mechanismen streben nicht wie diejenigen des Gesetzes und der Disziplin danach, den Willen des einen möglichst homogen, kontinuierlich und erschöpfend an die anderen weiterzugeben. Es handelt sich darum, eine bestimmte Ebene erscheinen zu lassen, auf der das Handeln der Regierenden notwendig und hinreichend ist. Diese Relevanzebene für das Handeln einer Regierung ist nicht die tatsächliche, Punkt für Punkt-Totalität der Untertanen, sondern die Bevölkerung mit ihren eigenen Phänomenen und Vorgängen. Die Idee des Panoptismus [besteht darin …], jemanden, ein Auge, einen Blick, ein Überwachungsprinzip im Zentrum zu platzieren, der seine Souveränität gewissermaßen auf alle Individuen wirken lassen kann, die im Inneren dieser Machtmaschine [untergebracht sind]. […] Keiner meiner Untertanen entgeht mir, und keine Geste keine meiner Untertanen bleibt mir unbekannt; noch einmal der perfekte Souverän, auf eine gewisse Art der Zentralpunkt des Panoptismus. Was wir dagegen jetzt auftauchen sehen, ist [nicht] die Idee einer Macht, welche die Form einer erschöpfenden Überwachung der Individuen annähme, damit jedes von ihnen gewissermaßen in jedem Moment bei allem, was es macht, für die Augen des Souveräns gegenwärtig wäre, sondern die Gesamtheit der Mechanismen, die für die Regierung und für diejenigen, die regieren, recht spezifische Phänomene relevant werden lassen, die nicht exakt die individuellen Phänomene sind […] Das ist eine ganz andere Weise, das Verhältnis Kollektiv-Individuum, das Verhältnis Totalität des sozialen Körpers-elementare Fragmentierung in Gang zu setzen, das ist eine andere Art, die in dem wirkt, was man Bevölkerung nennt. Und die Regierung der Bevölkerungen ist, denke ich, etwas von der Ausübung einer Souveränität bis in die feinsten Quentchen der individuellen Verhaltensweisen hinein völlig Verschiedenes. Wir haben hier zwei Machtökonomien, die, wie mir scheint, völlig verschieden sind.« (Foucault 2004a, 102f.)
Dieser Unterschied ist für das Verständnis der Foucaultschen Regierungstypologie entscheidend. Denn das »Leben«, von dem Foucault in seiner Theorie der »Biomacht« spricht, sind die in Statistiken sichtbargemachten Eigenschaften der »Bevölkerung« als biologisch-leibliche Lebewesen (Geburts- und Todesrate, Krankheits- und Gesundheitszustand, Ernährungszustand, Arbeits- und Wohnverhältnisse, etc.). Daher hat Giorgo Agambens vieldiskutierte These, dass das Lager angeblich das »biopolitische Paradigma der Moderne« sei und Biopolitik vor allem mit »totalitärer Herrschaft« zu tun hat (Agamben 2002, 125ff), entgegen seiner eigenen Behauptung mit Foucaults Konzept der Biopolitik nichts zu tun.
Nicht totalitäre Regime, sondern den Liberalismus hat man »als allgemeinen Rahmen der Biopolitik [zu] untersuchen«: Denn wenn man »verstanden hat, was dieses Regierungssystem ist, das Liberalismus genannt wird, dann, so scheint mir, wird man auch begreifen können, was die Biopolitik ist.« (Foucault 2004b, 43). Wenn Foucault von Biopolitik spricht, liegt sein Fokus daher auf liberalen Regierungstechniken, die eine »Begrenzung der Regierung« anstreben und daher der großen Mehrzahl der Menschen einen relativ großen Freiraum lassen, ihre individuellen Wünsche und Ziele zu verwirklichen. Diese Techniken intervenieren nur punktuell, denn die »Bevölkerung« wird in dieser Konzeption von »natürlichen« Prozessen beherrscht, die in ihrer Eigendynamik erhalten werden müssen und nur durch minimale Eingriffe reguliert werden dürfen, um sie den Regierungszielen anzupassen. Das wichtigste Beispiel (neben der medizinischen Impfung) für diese Art der Regierungstechniken ist der so genannte »freie Markt«, mit dessen Hilfe die »natürliche« Dynamik von Angebot und Nachfrage für Regierungsziele (wie etwa das Wirtschaftswachstum) genutzt werden soll. In diese soll die Regierung nur in Ausnahmefällen, bzw. nur um den »freien Wettbewerb« aufrechtzuerhalten, regulierend eingreifen. Ähnlich wie die Regierung die natürlichen biologischen Prozesse zwischen Krankheitserregern und körperlichen Abwehrmechanismen für sich zu nutzen versucht, indem sie nur punktuell mit Impfungen regulierend eingreift.
Disziplinartechniken, mit denen zum Beispiel das Sexualverhalten der Kinder und ihrer Eltern beeinflusst werden sollen, können innerhalb eines »liberalen« biopolitischen Sicherheitsdispositivs auch eine Rolle spielen, ebenso wie die Eugenik und rassistische, aber auch sozialstaatliche Gesetzgebungen, wenn sie als regulierende Interventionen in natürlich ablaufende Prozesse eingesetzt werden, analog zu Marktregulierungen und zu medizinischen Impfungen. Kurz: Für Foucault hat Biopolitik nur wenige Verbindungslinien zu Konzentrationslagern und »totalitärer Herrschaft«, für ihn ist es vor allem ein Konzept zur Analyse der Regierungstechniken des klassischen Liberalismus und des modernen Neoliberalismus (dies muss vor allem auch gegenüber den zahlreichen Missverständnisse in Philipp Sarasins Text »Mit Foucault die Pandemie verstehen« festgehalten werden).
Was man heute aus der erneute Lektüre der Foucaultschen Texte lernen kann, ist daher, wie Foucault bereits in den späten 70er Jahren jene der Regierung zur Verfügung stehenden drei Techniken der (1.) »Ausschließung«, der (2.) Disziplin und des (3.) »Sicherheitsdispositivs« analysiert hat, die in der Corona-Krise des Jahres 2020 in den Medien einerseits unter den Stichworten (1.) »Separierung der Risikogruppen« und der (2.) disziplinären »Quarantäne« und »Überwachung« (»Blockwartmentalität«) diskutiert wurden, aber vor allem (3.) in den statistischen Konzepten der »Normalsterblichkeit« bzw. »Übersterblichkeit«, »Herdenimmunität« und »flattening the curve« präsent waren und sind. Wobei die Regierungen, solange ihnen kein geeigneter Impfstoff zur Verfügung steht (zur großen Überraschung der Medien und der Bevölkerung) zumindest provisorisch erneut vor allem auf die klassischen Disziplinartechniken der Quarantäne setzen mussten – auch wenn sie die Notwendigkeit ihrer Maßnahmen immer vom Standpunkt eines Sicherheitsdispositivs aus mithilfe von Statistiken politisch argumentiert haben und auch deren Wirksamkeit medizinisch beurteilen.
Ich danke Insa Haertel und Nicola Condoleo für Hinweise und wichtige Anregungen zu diesem Text.
Michel Foucault, Der Panoptismus, in: Überwachen und Strafen, Frankfurt am Main 1994, 251–294.
Literatur
Giorgo Agamben (2002): Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben (ital. Orig. 1995). Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Michel Foucault (1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (frz. Orig. 1975). Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Michel Foucault (1983): Der Wille zu Wissen [=Sexualität und Wahrheit 1] (frz. Orig. 1976), Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Michel Foucault (2004a): Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I (Vorlesung am Collège de France 1977–1978). Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Michel Foucault (2004b): Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II (Vorlesung am Collège de France 1978–1979). Frankfurt/M.: Suhrkamp.