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STAY IN TOUCH 2

Stay in touch ist eine Kollaboration der Kunstuniversität Linz, Abteilung Kulturwissenschaft mit dem Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK), der Zeitschrift für Kulturwissenschaften, dem ilinx-Magazin und weiteren Partnerinstitutionen.

Es wird eine Bibliothek von Texten zusammengestellt, die dabei unterstützen, einen solidarischen und informierten Umgang mit der Pandemie zu finden. Es werden klassische und aktuelle Texte aus 2500 Jahren kommentiert und zur Verfügung gestellt.

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Diese Woche:

 

2004 — »Wieso diese Lust, so schnell das Augenmaß zu verlieren?«

Philipp Sarasins »Fremdkörper/Infektionen: Anthrax als Medienvirus« wiedergelesen

Von Insa Härtel

Philipp Sarasin hat unlängst einen Text zum Coronavirus verfasst. Unter der Überschrift »Mit Foucault die Pandemie verstehen?« widmet er sich der Frage, ob und wie sich Foucaults Konzepte dazu eignen, die aktuelle Situation zu deuten. In dem hier vorgestellten Aufsatz »Fremdkörper/Infektionen: Anthrax als Medienvirus« hingegen greift Sarasin darüber hinaus in einer, wie ich finde, weiterführenden Weise auf lacansche Psychoanalyse zurück: Taucht hier mit einschlägigen Betrachtungen des Genießens doch ein ansonsten häufig vernachlässigter Gesichtspunkt auf. Ist nicht auch gegenwärtig vornehmlich von der Angst, Unsicherheit oder Einsamkeit die Rede, selbst wenn z.B. im „Zuviel“ aufgeregt-exzessiver »Hamsterkäufe« potenziell eine jouissance durchscheint?

Doch von Anfang an: Sarasins Text geht von den Schnittstellen bzw. Übergängen von Realität und Fiktion aus, wie sie sich auch im Schreiben immer wieder zeigen. Konkret betrifft dies hier die Frage nach den ebenso real-tödlichen wie imaginären Effekten der 2001 zirkulierenden Briefe, die Milzbrandsporen enthielten. Speziell hebt der Autor auf das mit dem Begriff des Fremdkörpers verbundene, keineswegs harmlose Phantasma ab; und es ist diese Ausrichtung, die m.E. die Lektüre dieses Textes – trotz der anders gelagerten Situation – auch für die derzeitige Pandemiesituation lohnend macht. Denn natürlich unterscheiden sich die Konstellationen erheblich. In einem Epilog seines 2004 erschienenen Buchs »Anthrax«. Bioterror als Phantasma beschreibt Sarasin anlässlich des (seinerzeit schnell gestoppten) Auftretens von Affenpocken in den USA im Jahr 2003 selbst eine solche Differenz: Trotz »Grund[es] sie zu fürchten« sei seinerzeit keine besondere Panik aufgekommen; und dies nicht nur, weil die Gesundheitsbehörden – wohl anders als heute – »bewiesen, daß sie einen lokalen Ausbruch eines pathogenen Virus relativ schnell unter Kontrolle bringen können«. Sondern auch wegen des – verglichen mit den Anthrax-Briefen – fehlenden terroristischen Hintergrunds. Mit gewissen Tieren, die »ein ganz anderes Bild ab[gaben] als infizierte Immigranten oder gar Bioterroristen«, könne es, »ohne daß das jemand gewollt hätte«, zu Todesfällen kommen.

Auch wenn in der derzeitigen Situation wiederum eher Tiere als Terroristen im Spiel zu sein scheinen, würde ich dennoch behaupten: Sarasins »Anthrax«-Analyse kann, wenn sie sich den nur schwer aufzuhellenden Übergängen zwischen Metaphern und Realität widmet, dazu dienen, phantasmatische Aspekte der Covid-19-Pandemie zu erhellen. Dies beginnt in dem hier vorgestellten Aufsatz schon mit den – sich nicht immer als Metaphern zu erkennen gebenden – »primitive[n] Kampfmetaphern« in der Immunitätswissenschaft, auf die er mit Ludwik Fleck zu sprechen kommt, und setzt sich fort mit den imaginären Effekten der in den Mediensystemen zirkulierenden Signifikanten, welche die »Mikrobe« auch zu einem Medienvirus machen und welche als »Erreger von Wirklichkeit« funktionieren. Auch hinsichtlich der sich vermehrenden und sich von dem konkreten Gegenstand teils ablösenden Bedrohungsängste unterscheiden sich die Vorkommnisse wohl kaum grundsätzlich.

Sarasin skizziert eine erschreckende Geschichte der Infektionsnarrative, die schließlich die (angeblich) infizierten Kranken potenziell selbst mit dem »Erreger« identifiziert, mit dem Ziel einer »Säuberung« – bis hin zu »Desinfektionsduschen« für Juden in Auschwitz. Hierbei werden letztlich auch verhängnisvolle phantasmatische Annahmen vom ansteckenden »fremden Eindringling« wirksam, wodurch im rassistischen Ergebnis »Fremde« als eine tödliche, weil infektiöse Gefahr erscheinen.

Der Begriff ist nun mehrfach gefallen – doch was ist ein Phantasma? Um etwas, über Sarasins Text hinausgehend, auszuholen: Mit Lacan lässt sich ein solches wie ein Schirm vorstellen, der ein traumatisches Reales abwehrt. Durch Phantasieschemata wird etwas Unbegreifliches, Rätselhaftes in einen Erfüllungsraum übersetzt und ihm eine mythische Gestalt verliehen. Dabei steht einem Phantasma »als Glückseligkeit, als Traum vom störungsfreien Zustand«, so Žižek 1995 in der Zeitschrift RISS, auf der anderen Seite ein Phantasma im Sinne der verworfenen Kehrseite eben dieser harmonisch-»heilen« Gemeinschaft gegenüber – d.h. im Sinne dessen, was darin nicht integrierbar ist. Insofern die »heile Welt« inhärent unmöglich ist, wird die verleugnete unfassbare »Störung« demnach etwa in Form bedrängender Bilder von verschwörerischen, infektiösen oder auch beneidenswert genießenden »anderen« verkörpert. Was wiederum in Bekämpfungen jener Verkörperungen oder Repräsentant/innen des Unheils resultiert.

In seinem Kontext spricht Sarasin eine perverse jouissance an, den als monströs imaginierten anderen – im Fall »Anthrax«: den »arabischen Terroristen« – wie eine Mikrobe zu vernichten. Doch gibt es nicht gerade auch in vernetzten Gesellschaften ebenfalls eine Lust, so heißt es im hier vorgestellten Text weiter, »mit der Idee der globalen Infektion zu spielen«, eine Lust an Infektion, welche im Grunde (und wohl nicht allein kapitalorientiert) längst stattgefunden hat? Um diese Andeutungen Sarasins  noch weitergehend weiterzuspinnen: Es ginge dann mit der Infektionsgefahr z.B. auch um Phantasmen der Entgrenzung, durch die sich einerseits ein Drängen nach Grenzen bzw. Abgrenzung manifestiert – im Sinne eines Strebens nach »Reinhaltung« bzw. nach einer Eindämmung der imaginär von außen kommenden grenzenlosen Gefahr oder vielmehr: der Gefahr des Grenzenlosen. Nun sind, in differenter Ausprägung, in aktuell zuweilen geäußerten Coronavirus-Schuldzuschreibungen nicht allein an Einreisende aus dem Ausland, sondern durchaus im Sinne eines »foreign element that has invaded us« (wie Dessal hier im Kontext von Neo-Faschisten in Spanien schreibt), Vorstellungen bzw. rassistische Wendungen einer von anderswo eindringenden Gefahr unzweifelhaft erkennbar.

Auf der anderen Seite käme zugleich eine Sehnsucht nach Entgrenzung zum Tragen, nach dem Verschwimmen von Grenzen, nach einer »übergriffigen« Lust. Wie sie z.B. im – gerade wieder gefährlichen – Küssen verbildlicht werden kann, das mich als eine Körpergrenzen sexuell überschreitende Handlungsform schon länger interessiert. Denn, wie in Lacroix‘ Kleiner Versuch über das Küssen (2013) zu lesen ist: Ein Kuss stellt einen »Einbruch« dar, »Identitäts«grenzen werden offenbar als durchlässig oder durchlöchert erkennbar. »Ich habe nicht mehr Macht über alles: Ich werde überfallen, wir sind zu zweit in meinem Mund […]«. – Oder, wie eine (von Adam Phillips zitierte) Achtjährige sagt: Beim Küssen geraten die Münder »ganz durcheinander«.

In den derzeit zu Tage tretenden körperlichen wie geographischen Grenzziehungsimpulsen (wie sie hier Norddeutschland z.B. das Überschreiten der Grenze von Hamburg nach Schleswig-Holstein in Frage stellen) kreist man dann phantasmatisch immer auch um das, wovon man gerade nichts wissen will: um eine implizite Lust an der Grenzüberschreitung, die sich als Kehrseite der ausgesprochenen Programmatik erweist. Und scheinen »andere« über das Genießen, auf das man selbst zu verzichten hat, längst zu verfügen, so sind sie zu bekämpfen, zu denunzieren. Wobei man eben an dem, was man in Misskredit bringt, heimlich selbst Lust gewinnt. – Wie auch schon Freud in Totem und Tabu (1912-13a) von einer Gefühlsambivalenz etwa beim Berührungsverbot spricht; ihm zufolge kann das, was sich als Schutz gegen eine verbotene Handlung darstellt, immer auch deren Wiederholung implizieren – und sei es in Dynamiken des Ausdehnens der Gefahrenzonen, der endlosen Beschäftigung mit dem, was droht, oder des Klopapiers im Sinne einer eben nicht nur »beängstigte[n] Arbeit an der Sicherung der Fundamentaldifferenz (gegenüber den Fäzes)«. – Ausgehend von diesem kurzen Exkurs lässt sich also festhalten: Wenn Sarasin formuliert, dass das Phantasma ein nicht direkt zugängliches Genießen verdeckt, dann sind es m.E. gerade auch die dadurch aufgeworfenen Fragen und evozierten Gedankenfolgen, die den hier vorliegenden, wenngleich in einem anderen Kontext entstandenen Text heute so lesenswert machen.

Philipp Sarasin: Fremdkörper/Infektionen: Anthrax als Medienvirus. In: Ruth Mayer und Brigitte Weingart (Hg.): Virus! Mutationen einer Metapher, Bielefeld 2004, 131–148.
PDF im OA

Sarasin: Fremdkörper/Infektionen Anthrax-als-Medienvirus.pdf