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STAY IN TOUCH 5

Stay in touch ist eine Kollaboration der Kunstuniversität Linz, Abteilung Kulturwissenschaft mit dem Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK), der Zeitschrift für Kulturwissenschaften, dem ilinx-Magazin und weiteren Partnerinstitutionen.

Es wird eine Bibliothek von Texten zusammengestellt, die dabei unterstützen, einen solidarischen und informierten Umgang mit der Pandemie zu finden. Es werden klassische und aktuelle Texte aus 2500 Jahren kommentiert und zur Verfügung gestellt.

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Diese Woche:

 

1932–70 – Elias Canetti über Masse und Ansteckung

Auszüge aus dem Nachlass, zusammengestellt und kommentiert von Kristian Wachinger

Die gefährlichen Tiere im Bewusstsein des Menschen sind immer kleiner geworden. Von den Drachen der Urzeit bis zum Virus der Moderne ist ein sehr weiter Weg. So gleicht der einzelne Mensch immer mehr einem Gott, den winzige Neider zerstören wollen.
[8. August 1943; Nachlass Elias Canetti – Signatur 7]

Elias Canetti hat sein halbes Leben der Untersuchung des Wechselspiels von Masse und Macht gewidmet. Als junger Mann beeindruckt, verstört von Straßen-Ereignissen der Zwischenkriegszeit, dann als Zeitzeuge des heraufkommenden Nationalsozialismus und schließlich als Geflüchteter hat er begierig gelesen und unorthodox gesammelt, was ihm für das Thema wichtig erschien. In der 1960 erschienenen umfangreichen Studie Masse und Macht findet sich auch die folgende Stelle zur Wirkung von Epidemien:

»Unter allen Unglücksfällen, von denen die Menschheit seit jeher heimgesucht worden ist, haben die großen Epidemien eine besonders lebendige Erinnerung hinterlassen. Sie setzen mit der Plötzlichkeit von Naturkatastrophen ein, aber während ein Erdbeben sich meist in wenigen, kurzen Stößen erschöpft, hat die Epidemie eine Dauer, die sich über Monate oder gar ein Jahr erstrecken kann. Das Erdbeben richtet mit einem Schlage das Schrecklichste an, seine Opfer gehen alle zugleich zugrunde. Eine Pestepidemie dagegen hat eine kumulative Wirkung, erst werden nur wenige von ihr ergriffen, dann vermehren sich die Fälle; Tote sind überall sichtbar; bald sieht man mehr Tote als Lebende beisammen. Das Ergebnis der Epidemie mag schließlich dasselbe sein wie das eines Erdbebens. Aber die Menschen sind Zeugen des großen Sterbens, es spielt sich zunehmend vor ihren Augen ab. Sie sind wie die Teilnehmer an einer Schlacht, die länger dauert als alle bekannten Schlachten. Aber der Feind ist geheim, er ist nirgends zu sehen; ihn kann man nicht treffen. Man wartet nur darauf, von ihm getroffen zu werden.
[…]
Das Element der Ansteckung, das in der Epidemie von solcher Wichtigkeit ist, hat die Wirkung, daß die Menschen sich voneinander absondern. Das sicherste ist, niemand zu nahe zu kommen, denn er könnte die Ansteckung schon in sich haben. Manche fliehen aus der Stadt und zerstreuen sich auf ihre Güter. Andere schließen sich in ihre Häuser ein und lassen niemand zu. Einer vermeidet den anderen. Das Einhalten von Distanz wird zur letzten Hoffnung. Die Aussicht auf Leben, das Leben selbst drückt sich sozusagen in der Distanz zu den Kranken aus. Die Verseuchten formen sich allmählich zu toter Masse um – die Unverseuchten halten sich von jedermann, oft auch ihren nächsten Angehörigen, ihren Eltern, ihren Gatten, ihren Kindern, fern. Es ist merkwürdig, wie die Hoffnung, zu überleben, den Menschen hier zu einem einzelnen macht, ihm gegenüber steht die Masse aller Opfer.

Aber in dieser allgemeinen Verdammtheit, der jeder von der Krankheit Erfaßte als verloren gilt, ereignet sich das Erstaunlichste: Es gibt einige Gezählte, die von der Pest genesen. Es läßt sich denken, wie ihnen unter den anderen zumute sein muß. Sie haben überlebt, und sie fühlen sich als unverletzlich. So können sie auch Mitgefühl für die Kranken und Sterbenden aufbringen, von denen sie umgeben sind. ›Solche Leute‹, sagt Thukydides, ›fühlten sich über ihre Genesung so gehoben, daß sie meinten, sie könnten auch in Zukunft nie mehr an einer Krankheit sterben.‹«
[Elias Canetti: Masse und Macht. München 2011, S. 322–325]

Der Abschnitt steht in Masse und Macht im Kapitel Der Überlebende, und so ist es nicht verwunderlich, dass der Autor im hier übersprungenen Teil vor allem den Tod in den Mittelpunkt rückt und dabei das »von außen auferlegte« Sterben gegen »willkürliches« Töten und Selbstmord abgrenzt. Der Text mündet – dem Generalthema des Kapitels gemäß – in eine Betrachtung über die Wenigen, die von der Pest genesen sind, und leitet damit über zum nächsten Abschnitt, der berühmten Betrachtung Über das Friedhofsgefühl.

Eingebettet in den Epidemie-Abschnitt findet sich aber ein wichtiger Aspekt, der die Lebenden angeht, bevor sich ihr Schicksal gegenüber der Krankheit entscheidet: die Absonderung der Menschen voneinander. »Das Einhalten von Distanz wird zur letzten Hoffnung.«

Wie aus Canettis handschriftlichem Nachlass zu ersehen ist, beschäftigte er sich bereits früh mit dem Thema. Als promovierter Chemiker und als Bruder eines Mediziners (der sich später auf die Bakteriologie spezialisieren würde), zugleich zu dieser Zeit bestrebt, sich als literarischer Autor zu etablieren, stellt er Gedankenexperimente an:

»Epidemien: aufzufassen als eine Erzeugung menschlicher Massen zur Unterjochung unter die Massen tiefstehender Einzeller, der Bakterien.

oder: Rückverwandlung hochtierischer Individuen in den psychologischen Augenblick ihrer Entstehung aus der Samenmasse.

oder: Das hochentwickelte Individuum als Nahrung für eine tiefe Masse – Sühne für die Entwicklung.

Die Einzeller haben noch eine erstaunliche Fähigkeit, die den späteren Geschöpfen abgeht: die Fortpflanzung ist bei ihnen noch recht eigentlich Vermehrung, Geschlecht und Masse fallen zusammen. Hunderttausend Bakterien können aus einer entstehen und sie bleiben zusammen und greifen zusammen einen Menschen z.B. an.

Man müsste die Funktion der Masse im Aufbau des höheren Organismus exakt untersuchen.«
[13. Februar 1932 (oder 33) – Nachlass Elias Canetti – Signatur 5.1–5.4]

Nicht nur in diesem spekulativen Versuch einer biologischen Analogie zur Masse beschäftigt sich Canetti mit der Epidemie. Bei einem Besuch in Straßburg im Sommer 1933 verschmilzt das mittelalterliche Stadtbild in der aktuellen Lähmung durch einen Arbeitskampf mit Lektüreeindrücken, und er notiert (in einem abgebrochenen Briefentwurf an Hermann Broch):

»Stellen Sie sich vor, dass ich in Strassburg zu einer Zeit ankam, als ein Sympathiestreik mit den ausgesperrten Bauarbeitern die städtischen Angestellten mitgerissen hatte und der Kehricht in den kleinen Höfen der Altstadt tagelang liegenblieb. Der Anblick einer mittelalterlichen Stadt, – und ich kenne keine, die es so sehr wie Strassburg geblieben ist – wurde von einem pestilenzialischen Gestank unterstützt, und es scheint, dass ein solcher Gestank, wenn man den ersten Ekel überwunden hat, einen sehr rasch ins Vertrauen zieht. Ich träumte Nacht für Nacht von der Pest und den Gestalten, die sie hervorrufen müsste. Die Zeit um 1350 hat mich immer schon sehr beschäftigt, sie ist unserer in ihrer Aufgelöstheit sehr nahe; eine Pestnovelle, die im mittelalterlichen Strassburg spielt, wird sich auf die Dauer nicht vermeiden lassen, obwohl es schon so viele gibt. Jeder bildet sich ja ein, dass seine die einzige wird.«
[Nachlass Elias Canetti – Signatur 60]

Es bleibt Spekulation, wen Canetti damit meint: vielleicht weniger die »Pest-Klassiker« Thukydides mit der Attischen Seuche im 5. Jahrhundert v. Chr., Boccaccio mit dem Decamerone (14. Jahrhundert), Defoes Pest zu London (1722), E.A. Poes Maske des Roten Todes (1842), der späten Fassung von Manzonis Brautleuten (1842/43), sondern eher Jens Peter Jacobsens Pest in Bergamo (1881), Thomas Manns Tod in Venedig (1911), Georg Heyms Schiff (1911/12). Camus’ La peste (1947) war jedenfalls noch nicht geschrieben. Nachdem Canetti seinen Roman Die Blendung abgeschlossen hat, finden sich ab 1935 Hinweise auf ausführlichere Lektüre zum Thema Pest, vermutlich in Hinblick auf die eigene »Pestnovelle«, zu der es freilich nicht gekommen ist. Unter Canettis Notizen aus dem Jahr 1935 finden sich Abschriften aus Georg Grandaurs 1892 erschienener Übersetzung der Chronik des Mathias von Neuenburg, die die Pest in Straßburg um 1350 schildert:

»Es ereignete sich aber eine Pest und ein Sterben der Menschen, besonders in den Ländern jenseits des Meeres, in den Seegegenden und anderen angrenzenden Ländern, wie es seit der Zeit der Sündfluth nicht gewesen, so daß einige Gegenden ganz entvölkert waren und viele dreiruderige Schiffe, deren Bemannung gestorben, mit ihren Waaren führerlos auf dem Meere gesehen wurden. Zu Marseille starben der Bischof mit dem ganzen Capitel und fast alle Predigermönche und Minderbrüder und noch einmal so viele Einwohner. Was in Montpellier, zu Neapel und an anderen Orten geschehen ist, wer vermöchte dies zu erzählen? Wie groß die Menge der Sterbenden zu Avignon am päpstlichen Hofe war und wie ansteckend die Krankheit, weshalb die Menschen ohne Sacramente starben, die Eltern sich nicht um ihre Kinder kümmerten und umgekehrt, die Gefährten nicht nach ihren Gefährten noch die Diener nach ihren Herren fragten, wie viel Häuser mit allem Hausrathe leer standen, in welche sich Niemand hineintraute, dies Alles zu beschreiben oder zu erzählen ist erschrecklich. Keine Rechtsangelegenheit wurde daselbst verhandelt, der Papst blieb auf seinem Gemache eingeschlossen, hatte daselbst fortwährend ein grosses Feuer und gestattete Niemanden den Zutritt. Die Krankheit durchzog alle Länder und die Gelehrten konnten, obgleich sie vielerlei vorbrachten, doch keinen anderen sicheren Grund angeben, als daß es Gottes Wille wäre. Und dies dauerte, bald hier, bald dort, ein ganzes Jahr, ja noch darüber.«
[Nachlass Elias Canetti – Signatur 39]

Der erste Satz des 600seitigen Werkes Masse und Macht lautet bekanntlich: »Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes.« Davon ausgehend erklärt Canetti die Herausbildung von Zusammenhalt und daraus hervorgehende unterschiedliche Formen der Masse. Den (im obigen Zitat von mir hervorgehobenen) Passus akzentuiert Canetti in Masse und Macht: »… – die Unverseuchten halten sich von jedermann, oft auch ihren nächsten Angehörigen, ihren Eltern, ihren Gatten, ihren Kindern, fern. Es ist merkwürdig, wie die Hoffnung, zu überleben, den Menschen hier zu einem einzelnen macht, ihm gegenüber steht die Masse aller Opfer.« Den anschließend beschriebenen gesellschaftlichen Stillstand allerdings klammert Canetti dort aus.

Eine Notiz vom 23. Juli 1982 kündigt die Wiederaufnahme des Straßburg-Themas an: »… schien die Pest, die sich wieder auszubreiten vermochte, in ihr altes Jahrhundert zurückgestoßen« [Nachlass Elias Canetti – Unpubliziertes] und wird im spät verfassten dritten Band der Autobiographie Das Augenspiel (1985) aufgegriffen:

»Es war damals in diesen Gassen, daß mich der Gedanke der Pest überkam. […] Statt sie zu meiden, belebte ich sie mit den Bildern meines Schreckens. Ich sah Tote überall und die Hilflosigkeit der noch Lebenden. Es schien mir, daß Menschen in der Enge dieser Gassen einander auswichen, als hätten sie vor Ansteckung Angst.«
[Elias Canetti: Das Augenspiel. München 1994, S. 65]

Ebenfalls 1935 exzerpiert und zitiert Canetti umfangreich aus Justus F. C. Heckers Standardwerk Der Schwarze Tod im 14. Jahrhundert; die seitenlangen Abschriften von Zahlenkolonnen mit Todesopfern und von Chroniken sei hier als Beleg für intensiver Beschäftigung mit dem Thema erwähnt.

1938 ist das Jahr der Flucht: nach dem sog. Anschluss Österreichs an Nazideutschland im März ist es nur noch eine Frage von Monaten, dass die Canettis Wien verlassen und über Paris nach London fliehen. Vom 19. August 1939 datiert die folgende Notiz, die das Wesen der Epidemie ohne Umschweife zur Metapher für die politische Lage Europas macht.

»Das Anarchische der Demokratie, soweit es um Geistiges geht. Jeder Mensch, ob schwach ob stark, ist geistigen Überfällen ausgesetzt, die auf seine augenblickliche Verfassung keinerlei Rücksicht nehmen. Einer mag, im Verlauf einer Erschöpfung oder Erschütterung so unendlich empfindlich sein, dass ein einziges Wort, ein blosses Schlagwort vielleicht ihn für immer in eine bestimmte Richtung drängt. Wie zufällig ist aber sein neuer Weg! Eine halbe Stunde später wäre er gar nicht mehr da hingeraten. Wie zufällig ist die Parteistellung so vieler Menschen! Die Luft ist von zehntausend geistigen Keimen voll, und es ist durchaus wie mit den Krankheiten: was aus eines Menschen Kopf und Seele wird, hängt von lächerlichen Nichtigkeiten ab. Ein Dschungelzustand, der immer noch schlimmer wird, denn die Keime vermehren sich rascher als Pest, niemand denkt daran, sie zu bekämpfen, selbst Quarantänen sind verpönt.«
[Nachlass Elias Canetti – Signatur 5a]

Ganz im Sinne des interdisziplinär interessierten Canetti, und gewiss getrieben durch den Austausch mit seinem bereits erwähnten jüngsten Bruder Georges Canetti, tauchen in Elias Canetti Notizen immer wieder Überlegungen zwischen Bakteriologie und Soziologie auf, so etwa unter dem 26. März 1942:

»Bakteriologie und revolutionärer Sozialismus

Eines der wesentlichen Phänomene des 19. Jahrhunderts ist die gleichzeitige Entstehung von Bakteriologie und Marxismus. Beides ist die Vorstellung massenhafter Bedrohung durch lebende Geschöpfe, die unvergleichlich kleiner sind als das Bedrohte. Der Leib, den die Bakterien attackieren, unsichtbar, einander gleich, in riesenhaften Mengen entspricht dem Staat, der von einem unerschöpflichen Proletariat unterwühlt wird.

Es ist sehr merkwürdig, dass die Atomtheorie etwas nach der französischen Revolution wieder aufgekommen ist, eine Vorbereitung auf die organische Zellenlehre und Bakteriologie, die ein halbes Jahrhundert später aus der Atmosphäre der 48-Jahre hervorwachsen.«
[Nachlass Elias Canetti – Signatur 40]

Vom 19. September 1956 datiert eine Notiz, von der es wenig später eine Reinschrift gibt, die nicht ins Manuskript von Masse und Macht aufgenommen wurde:

Ȇber Ansteckung

Das Wort wird für manches verwendet: man steckt Andere mit einer Krankheit an, aber auch mit bestimmten Gefühlen, mit Freude und mit Trauer, mit Kampflust und Mutlosigkeit, mit Übermut und Verzweiflung. Die leichte Übertragbarkeit der Affekte von Mensch zu Mensch kommt in dieser Art Verwendung des Wortes ›Ansteckung‹ zum Ausdruck. So wird es auch ganz besonders für Vorgänge der Masse gebraucht.

Es ist also etwas Archaisches im Wort, aus einer Zeit, da Böses wie Gutes als freibewegliche Kraft zwischen Menschen hin und herfloss. In diesem Charakter des Wortes ist eine sehr alte und wichtige Weisheit enthalten. Man soll ihr nicht misstrauen, man soll sie besser auszuschöpfen versuchen.

Die Ansteckung, in welcher Form immer sie operiert, geht immer weiter, sie hört nicht nach einem oder zwei oder drei Fällen auf. Solange sich Menschen finden, schreitet die Ansteckung an ihnen fort. Sie ereignet sich nur über Menschen, ohne diese gibt es sie nicht, und sie hört von selber nicht auf, solange sie Menschen findet. Sie ist auch immer geheimnisvoll, eine Art von Berührung genügt, sei es auch nur durch den Atem, um sie zu bewerkstelligen. Aber bis vor ganz kurzem – wenn man an die riesigen Zeiträume menschlicher Vorgeschichte denkt – wusste man nichts Genaues darüber, wie sie vor sich geht. Auch jetzt, da das Wesen so vieler Krankheiten enträtselt ist, da man die winzigen Geschöpfe kennt, die uns in ungeheurer Zahl mit Krankheiten überfallen, hat das Wort ›Ansteckung‹ selbst noch immer etwas von seiner Rätselhaftigkeit behalten. Noch völlig unaufgeklärt ist der Vorgang der Ansteckung, wenn er als innerhalb der Masse wirkend gedacht wird. Hier ist das Wesen der Ansteckung so geheimnisvoll geblieben, dass Viele sich kurzerhand entschlossen, sie überhaupt zu leugnen. Diese behaupten dann einfach, dass es weder so etwas wie Masse noch die Ansteckung gibt, die zu ihrer Bildung beiträgt.

Mir scheint es klüger und nützlicher, das Wort in seinem alten Sinn zu verstehen und ihm in seiner alten, überkommenen Anwendung nachzugehen.

Im krassesten Falle, dem der Pest, führt die Ansteckung zu Haufen von Leichen. Jede historische Schilderung der Pest gipfelt in der Darstellung solcher Haufen und ihre Furchtbarkeit wird gewöhnlich erhöht durch Geschichten von einzelnen Kranken, die innerhalb solcher Haufen von Toten plötzlich wieder zum Leben kamen, die diese Leichenhaufen also auf die innigste und tiefste Weise erlebt haben, mitten in ihm selbst, am eigenen Leib.

Aus ähnlichen Haufen bestehen die Schlachtfelder, nach der Schlacht. Doch denkt man sich nicht, dass die Toten hier durch Ansteckung gefallen sind. Überall wo der Mensch den Tod selbst erteilt, durch Hieb, Stich, Schlag oder Schuss, wo die Ursache des Todes genau bekannt ist, wo jeder weiss, dass er diesen oder jenen getötet hat und wenn nicht er, so bestimmt ein anderer, da hat das Wort ›Ansteckung‹ keine Anwendung mehr, sein Geheimnis ist ihm benommen worden.

Der andere extreme Fall, den man sich durch ihre Wirksamkeit entstanden denkt, ist die Masse, diesmal der Lebenden. Aber auch hier wendet man das Wort nur an, wenn man von der Art, in der diese konkrete Masse entstanden ist, keine allzuklare Vorstellung hat. Adepten einer Religion, die durch Predigt, also durch ganz bestimmte Worte gewonnen worden sind, gelten nicht als angesteckt. Wenn aber eine amorphe, revolutionäre Masse in einer Stadt besteht und Andere auf eine dunkle Weise getrieben zu ihr stossen, ohne konkret bestimmbaren, individuellen Anlass, so spricht man von Ansteckung.

Sehr interessant und einer besonderen Betrachtung wert sind die Versuche, Ansteckung – und zwar im doppelten Sinn des Wortes – zu verhindern. Das Weitergegebene, das Menschen so zusammenbringt, dass Massen aus ihnen entstehen könnten, gilt als Krankheit und gefährlich, und muss auf jede Weise verhindert werden. Um die Menschen aus beiderlei Gründen, die aber als ein einziger angesehen werden, auseinanderzuhalten, werden die strengsten Berührungsverbote eingeführt. Besonders schön sind diese im indischen Kastensystem zu studieren.

Ein Beginn von etwas. An sich noch nicht viel. Sollte zu einer ernsthaften Untersuchung der ›Ansteckung‹ ansetzen und wirklich ausgeführt werden.«
[Nachlass Elias Canetti – Signatur 49]

Parallel zu Notizen zu Masse und Macht finden sich in Canettis Nachlass immer wieder Aufzeichnungen rund um das Thema. Unter dem 13. Juni 1953 etwa das zum dystopischen Aphorismus zugespitzte Gedankenspiel:

»Ein Arzt, der eine Krankheit erfindet und propagiert, bis sie zur Epidemie wird, die ihn dahinrafft.«
[Nachlass Elias Canetti – Signatur 22.2–22.4]

Schon im Jahr des Erscheinens von Masse und Macht erfindet Canetti, in aphoristischer Engführung mit seinem Genre der theophrastischen Charaktere im Ohrenzeugen, die Personifizierung eines Mechanismus, den wir heute »viral« nennen: Nicht nur Bazillen und Viren verbreiten sich rascher denn je über den Globus, sondern jegliche Art von Informationen, richtige wie falsche, nützliche wie schädliche. Der »Krankheits-Verbreiter« ist es, der Gerüchte in Umlauf bringt und, schlimmer noch, von Wissenschaftlern zusammengetragene Fakten kraftmeiernd als »fake news« abtut und vergiftete Vokabeln wie die vom Gutmenschen in die Welt setzt – zu seiner eigenen Erhöhung.

»Der Krankheits-Verbreiter, eine Figur, die mich seit Jahren beschäftigt. Er muss jede Krankheit, die ihn befällt, zu allen Menschen tragen. Er beginnt bei seinen guten Freunden, aber er geht auch in jedes Lokal. Er ist Gerücht und Epidemie; was immer er hat, muss zu Öffentlichkeit werden.«
[11. August 1960; Nachlass Elias Canetti – Signatur 57]

Immer noch gibt das Straßenbild die verlässlichste Auskunft. Zwar ziehen schlägernde so genannte Minderheiten die Blicke auf sich, nicht anders als die Parolen der rhetorischen Populisten. Es ist eine hoffentlich vorübergehende Ironie der Geschichte, dass die Welt unmittelbar nach den – weltweiten – Demonstrationen gegen weitere Klima-Zerstörung nun – weltweit – mit Versammlungsverboten konfrontiert ist.

Angesichts von Krankheits-Verbreitern großen Stils keimt doch die Hoffnung, dass die friedlichen globalen Proteste für die richtige Sache nicht ausbleiben und auch nicht mit Gewalt niedergemacht werden. Ein nicht nachgewiesenes Zitat, vermutlich von Alexander Herzen, das sich unter dem 16. Juli 1970 in Canettis Aufzeichnungen findet, scheint ihm nahegegangen zu sein, gerade auch in seiner verbalen Unbeholfenheit, die als ein Spiegel der beklommenen Situation aufgefasst werden kann:

»Wir versammelten uns, sämtliche Fakultäten, auf dem großen Hof der Universität; es war etwas Rührendes an dieser sich drängenden Masse der jungen Leute, die angesichts der Seuche auseinandergehen sollte.«
[I, 166; Nachlass Elias Canetti – Signatur 17]