Call for paper: 20.02.2009; Konferenz: 24.04. bis 25.04.2009 IBM Forum Wien
Eine Kooperation von:
Kunstuniversität Linz, Institut für Medien, Abt. Medientheorie,
Synema - Gesellschaft für Film und Medien (Wien),
IBM Österreich Internationale Büromaschinen Gesellschaft m.b.H (Wien)
Konzeption: Dr. phil. habil. Ramón Reichert, Kunstuniversität Linz/Medientheorie
Tagungsort: IBM Forum Wien, Obere Donaustraße 95, 1020 Wien
Call for Paper
Deadline: 20. Februar 2009
Die Konferenz ist transdisziplinär und mediengeschichtlich ausgerichtet und integriert in diesem Zusammenhang Bild und Text, alte und neue Medienformate, Bezüge zu Foto- und Videoamateuren früherer Epochen, die Alltagskultur kunst- und kulturhistorischer Bezüge, die Grenzverschiebungen von öffentlicher und privater Sphäre, Arbeiten zur genderbezogenen Repräsentationspolitik und nicht zuletzt Beispiele zum Spannungsfeld von Normalisierung und widerspenstigen Praktiken.
Vortragsvorschläge (je 20 Minuten) sind in Form eines Abstracts (4.000 bis 5.000 Zeichen) bis zum 20. Februar 2009 einzureichen. Die Abstracts sollen begutachtungsfähige Aussagen zu den oben angeführten Fragestellungen enthalten. Die eingeladenen Teilnehmer/innen werden umgehend – Ende Februar – kontaktiert. Das Organisationsteam wird das Programm bis zum 6. März 2009 zusammenstellen. Eine Publikation der Beiträge ist vorgesehen.
Schicken Sie bitte Ihr Abstract an beide Mitglieder des Organisationsteams:
PD Univ. Ass. Dr. phil. habil. Ramón Reichert
Kunstuniversität Linz/Medientheorie
Reindlstraße 16-18
A-4020 Linz
Tel ++43-650-7898-581
E-Mail: ramon.reichert@ufg.ac.at
Dr. phil. Brigitte Mayr
SYNEMA - Gesellschaft für Film und Medien
Neubaugasse 36/1/1/1
A-1070 Wien
Tel ++43-1-523 37 97
E-Mail: office@synema.at
Weblogs, Community-Seiten, Wikis, Pod- und Videocasts sind ein Phänomen Alltagskultureller Kommunikation. Die exponentielle Verbreitung moderner Informationstechnologien und die neuen Vernetzungsstrukturen im Internet erlauben kollektive Beziehungen, die vorher unmöglich waren. Damit einhergehend ist eine spezifische Medienkultur der Selbstpraktiken entstanden, die vielfach die Form von Selbstführung und Bekenntnis, von Buchführung und akribischem Leistungsvergleich, von experimentellem Selbstverhältnis und Selbstinszenierung als ästhetische Praxis, annimmt. Die Diskurse der Selbstaufmerksamkeit und Selbstbeobachtung sind tief in den Alltag eingedrungen und haben dazu geführt, dass es heute alltäglich und selbstverständlich ist, wenn die unterschiedlichsten Menschen in Medienöffentlichkeiten bereitwillig über sich selbst Auskunft geben und sich damit als Objekt der Betrachtung in Szene setzen.
Die neuen Ausdifferenzierungen der digitalen Kommunikation sind von einem emphatischen Individualitätskonzept geprägt: Weblogs, Wikis und soziale Netzwerkseiten fungieren als subjektzentrierte Praktiken und Machtverhältnisse, die von den Internetnutzern die Bereitwilligkeit abverlangen, immer mehr Informationen und Daten über ihre Person und ihr Leben zu veröffentlichen, die jederzeit und weltweit mittels Netzrechner abgerufen werden können. Der allgemeinen Gegenwartstendenz zur Mediatisierung des Alltäglichen kommt die neue Praxis der autobiografischen Selbstthematisierung auf den Aufmerksamkeitsmärkten des Internet entgegen. Sie haben einen Trend gesteigerter Visibilitätszwänge etabliert, der heute jenseits der klassischen Bildungseliten alle Schichten erfasst. Der verzweigte Diskurs der Selbstthematisierung verlangt von jedem einzelnen die Bereitschaft, die neuen medialen Formen der Selbstdarstellung zu erlernen, zu beherrschen und weiterzuentwickeln. Der Boom, sich selbst in Bekenntnisformaten auszustellen, hat wesentlich zur Normalisierung von Visibilitätszwängen beigetragen. Im beweglichen Feld rechnergestützter Datengewinnung und -verarbeitung nehmen sowohl Visualisierungstechniken zur Wissensproduktion und Wahrnehmungskonstitution als auch Programme zur Auswertung und Archivierung digitaler Nutzung einen zusehends größeren Raum ein (z.B. die Retrieval-Modi sorting, counting, ranking, marking). In welchem Verhältnis stehen diese computerbasierten Darstellungstechniken, Wissensrepräsentationen und Normierungsverfahren von Aufmerksamkeit mit der Ausprägung von Subjektkonstitutionsprozessen?
Die Vielfalt partieller und pluraler Selbstentwürfe im Netz entfaltet eine Wirkkraft, die nicht nur die Bedingungen der konstruktiven Bestimmung des Subjekts tangiert; sie erfordert auch die theoretische Selbstreflexion eines entgrenzenden begrifflichen Denkens der neuen Medien. Es wird damit eine Perspektive nahe gelegt, entlang derer transdisziplinäre Thesen entwickelt werden können.
Im Frühjahr 2004 verkündeten Tim O'Reilly und Dale Dougherty mit ihrem Branding-Konzept des Web 2.0 eine neue Ära der Amateurkultur. Die neu belebte Debatte zur Interaktivität, Konnektivität und Kollaborativität der Netzöffentlichkeit fällt in eine Zeit, in der die tägliche Medienberichterstattung eine Krise der etablierten politischen Repräsentation beschwört. Die Vision vom demokratischen Netz ist von einer tief greifenden Kritik gegenüber der politischen Repräsentation der Bürgerinnen und Bürger geprägt. Innerhalb einer Aufmerksamkeitsökonomie, die auf Neuheit und Differenz basiert, bedeutet die potenzielle Integration jedes einzelnen in die Sichtbarkeit der Internetöffentlichkeit jedoch keine Ausweitung politischer Repräsentation. Denn die Internetöffentlichkeit besteht überwiegend aus kultureller und ästhetischer Repräsentation, deren Verbindung zur politischen Repräsentation fragwürdig bleibt, wenn in Betracht gezogen wird, das die vermeintlich souveräne Selbstermächtigung des Subjekts in das Spiel opponierender Bedeutungsfelder und in die Paradoxieanfälligkeit tendenziöser Geschmacksurteile involviert ist.
Im Unterschied zur erhofften Radikaldemokratie und kritischen Netzöffentlichkeit ist vielmehr ein unübersichtliches Gewirr von Subgruppen und eine Kommunikationskultur der Selbstthematisierung entstanden, in dessen Dunstkreis der Imperativ "Erzähle dich selbst" neuen Aufschwung erhalten hat. Möglicherweise hat heute die "Ausweitung der Bekenntniskultur" und die mit ihr einhergehenden medialen Formen der Selbstthematisierung die Thematisierung der politischen Repräsentation in den Hintergrund verdrängt. Die gängigen Medienmanuale der Selbststeuerung dienen in einem hohen Ausmaß normativen Bildungsanforderungen: ePortfolios, Kompetenzraster, Lern-Journale, Dossiers, Credit-Point-Systeme und kollaborative Kommunikationssysteme vermitteln zwischen den Anforderungen und Zumutungen der Managementstile, Wissenstechniken, Ego-Taktiken und der Kommerzialisierung der Netzdienste. Die Medienamateure von heute sind multimedial versiert, erstellen ihr Profil in sozialen Netzwerken, beteiligen sich aktiv an Forendiskussionen, nutzen das Web Content Management zur Selbsterzählung und Selbstinszenierung, engagieren sich als Netzwerker/innen in den Clubs der Gated Communities, checken den Webtraffic ihres bei YouTube upgeloadeten Videos, verknüpfen Netzwerk-Hyperlinks, posten ihre Artikel, Fotos, Musik, Grafiken, Animationen, Hyperlinks, Slide Shows, Bücher-, CD- und Software-Rezensionen, kommentieren den Relaunch ihrer Fansites, verschicken selbst gestaltete E-Cards, updaten ihr Online-Diary, changieren zwischen unterschiedlichen Rollenstereotypen in Online-Games, leisten gemeinnützige Arbeit als Bürgerjournalisten, exponieren Privates und Vertraulichkeiten und nutzen hierfür alle angebotenen synchronen als auch asynchronen Formen der computervermittelten Kommunikation: E-Mail, Foren, Chat, Instant-Messages.
Führt der im Netz forcierte Verdrängungswettbewerb von Virtuosen der Biografie- und Identitätskonstruktion, individualistischen Lebensformen und eine allgemeine "Kultivierung des Selbst" (Ehrenberg) letztlich dazu, dass Freiheitsdiskurse vollständig von den Rechtfertigungssystemen kapitalistischer Diskurse absorbiert werden? In einer ersten Annäherung an diese vielschichtige Fragestellung kann festgehalten werden, dass sich Begriffe wie etwa 'Selbstbestimmung', 'Selbständigkeit' und 'Gleichberechtigung' von ihrem emanzipatorischen Kontext gelöst haben und heute als Versatzstücke kommerzieller Freiheitstechnologien konsumiert werden.
Heute verleihen die emanzipatorischen Ideale der Neuen Linken und der Revolutionäre der 1968er-Bewegung der kapitalistischen Werteordnung ein selbstzufriedenes Image. Aber unter welchen Bedingungen konnte es geschehen, dass die alternativen Begriffe der Kulturrevolution wie etwa Autonomie, Kreativität und Authentizität, die sich einst gegen die Leistungsgesellschaft richteten, heute zu Persönlichkeitsmerkmalen der Leistungselite innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft geworden sind? In ihrer Untersuchung über den "neuen Geist des Kapitalismus" knüpfen Luc Boltanski und Ève Chiapello an die Protestantismusthese Max Webers an und führen den Nachweis, dass sich der projektbasierte Kapitalismus des 21. Jahrhunderts die anti-kapitalistischen Ideen der Selbstverantwortung und Kreativität zunutze gemacht hat, um Ansehen und Akzeptanz bei seinen ehemaligen Kritikern zu gewinnen.
Bei der Erforschung der strukturellen Hintergründe und historischen Markierungspunkte machen Ansätze der soziologischen Biografieforschung die seit Mitte der 1960er Jahre entstehende Alternativ- und Subkultur – Selbsterfahrungsgruppen, Wohnkollektive, politische Zirkel – geltend und verweisen auf die sozialen Umbrüche der Bildungsexpansion, der Frauenbewegung, der sexuellen Liberalisierung und der Anti-Pädagogik. Der multiplen und multimedialen Aufgliederung der Selbstthematisierung korrespondiert eine strukturelle Freisetzung der Individuen aus traditionellen Vergesellschaftungsformen und festen Klassenstrukturen. Diese Freisetzung erhöht zwar die individuelle Handlungsmöglichkeit im Sinne gesteigerter Mobilität, Flexibilität und Entscheidung, andererseits begünstigt sie Unterscheidungen, die heute direkt am Individuum ansetzen: Individualität wird heute vorrangig in ihren Distinktionsbestrebungen beurteilt und vermessen. Einen weiteren Schub erhält die Selbstthematisierungskultur mit der Privatisierung des Fernsehens in den 1980er Jahren. Mit dem neuen Fernsehformat der Talkshow konkurrenziert das kommerzielle Fernsehen um Marktanteile in einer boomenden Bekenntnis- und Geständniskultur. Das Fernsehen der 1980er Jahre kommuniziert weniger Formen der authentischen Selbstdarstellung, sondern raffinierte Rollenspiele und Selbstinszenierungen. Sein populärer Utilitarismus verankert die expressiven Tendenzen der medialen Selbstdarstellung in der Konsumästhetik. Selbstverwirklichung wird immer weniger in alternativen Lebensformen bestehender Gegen- und Subkulturen, sondern vielmehr im Konsumhedonismus gesucht. Im heutigen globalen Konsumkapitalismus knüpft sich die Selbsterfüllung im Konsum an neue Techniken der Normalisierung: die Thematisierung des Selbst verortet sich verstärkt im Diskurs der Selbstvermarktung. Zu den Charaktereigenschaften einer erfolgreichen Persönlichkeit zählt heute die 'Marktfähigkeit' und eine 'unternehmerische' Einstellung: Diskurse der Selbstbeherrschung und -kontrolle müssen sich folglich mit den Techniken des Selbstmanagements vertraut machen.
Mit ihren alltäglichen und gewöhnlichen Praktiken verhalten sich die im Netz agierenden Medienamateure jedoch keineswegs als passive Konsumentinnen und Konsumenten. Ihr Storytelling modifiziert den digitalen Raum und knüpft ein widerspenstiges Netz (bottom up), das vermöge sozialer Gebrauchsweisen entsteht. Als Gegenstück zu dem von Foucault beschriebenen systematisch-zweckrationalen Netz der Disziplinierungsmacht sind Computernetze den Akteuren nicht auferlegt, sie sind kein fertiges Produkt, sondern ein fortlaufender Prozess. Die in das Alltagshandeln im Hier und Jetzt situierten Akteure können die Regeln, Produktlogiken oder Systemzwänge mittels unbegrenzter Praktiken unterlaufen und bilden für de Certeau ein Netz der Antidisziplin, dass sich in der kreativen Nutzung von Freiheitsspielräumen oder günstigen Gelegenheiten bewährt.
Vor dem Hintergrund dieses dynamischen Aggregats medialer Technologien, Selbstpraktiken und sozialer Strategien soll die Konferenz Antworten auf folgende Fragen bieten:
- Auf welche Weise verändern die neuen medialen Präsentationsformen und -techniken im Netz die Möglichkeiten der Selbstthematisierung?
- Auf welche Art und Weise formen digitale Netzwerke die Selbstthematisierungen der Subjekte und unter welchen Voraussetzungen werden die Praktiken der Subjekte selbst zur Normalität gesellschaftlicher Diskurse? In welchem Verhältnis stehen normalisierende und widerständige Selbsttechniken im Netz?
- Auf welche Weise generieren Amateure eine neue visuelle Kultur? Welchen Stellenwert haben die Verfahren der Dekontextualisierung und der Resignifikation in der Medienpraxis der Amateure?
- In welchem Verhältnis stehen die Praktiken der Videoamateure bei YouTube u.a. zu künstlerischen Praktiken? Welchen Einfluss haben Produktionsweise und Ästhetik der Amateurkultur auf künstlerische Produktionsprozesse?
- Heute zählt der 'Mixed Media'-Erzählstil zur alltäglichen Normalität im hypermedialen Netzwerk des Internet. Als ein Speicher- und Verarbeitungsmedium vielfältiger Zeichenordnungen verknüpft der Computer als Medium der Medien sogenannte Hypertexte, die sich aus schriftlichen, auditiven, visuell-dynamischen, fotografischen und grafischen Dokumenten zusammensetzen. Welche Skripte, Kodes und Erzählformen haben sich in den Videoblogs bei YouTube u.a. ausgebildet?
- Welche Konsequenzen hat die Auflösung der traditionellen Trennung von Produzent/innen und Rezipient/innen für medienkulturelle Praktiken und Diskurse?
- Wie können die künstlerisch-kreativen Praktiken der Umdeutung, Verschiebung und Überlagerung hegemonialer Diskurse auf angemessene Weise beschrieben werden?